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Literatur

Der Ukraine-Krieg und die Literatur

Philipp Jedicke
20. März 2022

Bei einem Ukraine-Panel auf der Buchmesse Pop-Up in Leipzig sprechen Schriftstellerinnen und Schriftsteller über Macht und Ohnmacht angesichts von Putins Angriffskrieg.

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Besucherinnen und Besucher der Buchmesse Pop Up in Leipzig stöbern in Büchern
Nach Absage der Leipziger Buchmesse spontan ins Leben gerufen: die Buchmesse Pop-UpBild: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/picture alliance

Gleich zu Beginn dieser Veranstaltung wird klar: Niemand möchte hier unnötig Zeit verschwenden, es wird Tacheles geredet. Ralf Nestmeyer, Vizepräsident des deutschen PEN-Zentrums, ist sich in seiner kurzen einleitenden Ansprache mit der Leipziger Presse und den Machern derBuchmesse Pop-Up einig: Dieses Ukraine-Panel sei "die wichtigste Veranstaltung, die bei der Messe stattfindet." Denn es gehe um ein Thema, dem man sich nicht entziehen könne. Auf seinem Weg nach Leipzig habe er sie gesehen - am Bahnhof in Nürnberg, beim Umsteigen in Halle und bei der Ankunft in Leipzig: die vielen Menschen aus der Ukraine, die auf der Flucht sind vor Wladimir Putins Angriffskrieg.

Das Ukraine-Panel wurde innerhalb kürzester Zeit von der Buchmesse Pop-Up in Zusammenarbeit mit dem PEN-Zentrum möglich gemacht. Eine der zentralen Aufgaben von PEN sei es, "Vertreter verschiedener Nationen ins Gespräch zu bringen". Und so sprechen, moderiert von Cornelia Zetzsche, unter dem Titel "Nein zu Putins Krieg - Was kann Literatur leisten?" die ukrainische Schriftstellerin Marjana Gaponenko, der deutsche Historiker Karl Schlögel, die belarussische Autorin Volha Hapeyeva und ihr russischer Kollege Michail Schischkin. Sie alle haben gewarnt und gemahnt - teils schon vor Jahren, in deutlichen Worten. Das Interesse ist groß, die Veranstaltung ist ausverkauft und parallel in einem Livestream zu sehen. 

Worte finden für das Entsetzen

Zu Beginn liest Cornelia Zetzsche Zeilen aus dem Roman "Internat" des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan , die wie eine dunkle Vorahnung dessen klingen, was die Welt gerade erlebt: Bahnhöfe wie belagerte Städte. Eine Welt, die ständig schrumpft. Maschinengewehrsalven. Eine Stadt "wie eine schwarze Grube", aus der Seelen "hinausgepumpt" werden. Danach spricht Zetzsche die Ohnmacht an, die viele Europäerinnen und Europäer fühlen, während sie "Zuschauer eines Verbrechens" seien und als "Amateurpsychologen" und selbsternannte Militärexperten versuchten, Worte für diese Katastrophe zu finden.

Marjana Gaponenko mit einem Mikrofon in der Hand
Marjana Gaponenko 2017 beim Festival der Weltliteratur in ZagrebBild: Sanjin Strukic/PIXSELL/picture alliance

Die ukrainische Schriftstellerin Marjana Gaponenko kommt aus Odessa, lebt in Wien und Mainz und schreibt auf Deutsch. Sie telefoniert jeden Tag mit ihrer Großmutter, die in Odessa ausharrt, Jahrgang 1932 ist und aus dem Donbass kommt. Schon die Besetzung der Krim 2014 habe böse Erinnerungen bei ihr geweckt, nun bauen sich vor Odessa die Kriegsschiffe Putins auf. Auf die Frage, welche Worte sich finden lassen, sagt Gaponenko, dass auch ihr, der Schriftstellerin, die Worte fehlten. Um sie herum tose ein Orkan, und sie empfinde es als "obszön, jetzt literarisch zu arbeiten." Doch ein Wort findet sie für diesen Krieg: Völkermord. Dieser müsse "gestoppt werden, so schnell, wie es geht", so Gaponenko. Immer wieder fordert sie während des Panels, dass die NATO Stärke zeigen müsse und auch Deutschland härtere Maßnahmen gegen Russland ergreifen müsse. Worte fände sie erst dann wieder, wenn dieser Krieg gewonnen sei. An den Sieg der Ukraine glaube sie fest.

Weg von der Angst

Auch Karl Schlögel ist überzeugt davon, dass mehr getan werden muss. Der Historiker und Osteuropa-Experte ist immer wieder in die Ukraine gereist und hat in Werken wie "Entscheidung in Kiew: Ukrainische Lektionen" und in persönlichen Berichten aus Städten wie Lwiw, Odessa, Czernowitz, Kiew, Charkiw und Donezk aufgezeigt, was sich dort in den letzten Jahren abgezeichnet hat. Gleich zu Anfang betont er im Panel, dass das, was momentan an all diesen Orten passiere, die er so gut kenne, jenseits seiner Vorstellungskraft liege. Sein ukrainischer Verleger säße mit seiner 92-jährigen Mutter zu dieser Stunde in einem Keller in Kiew.  

Karl Schlögel bei einer Lesung für die Ukraine im Maxim Gorki Theater Berlin
Karl Schlögel, hier bei einer Lesung für die Ukraine im Maxim Gorki Theater in BerlinBild: Gerald Matzka/dpa/picture alliance

In klaren Worten erinnert Schlögel daran, wie lange man in Deutschland Putins Propaganda aufgesessen sei und alles getan habe, um ihn bloß nicht zu dämonisieren. Dafür bekäme man nun die Quittung. Er hoffe, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Panels eine Sprache fänden, die sich vom "Talkshow-Zirkus" in Deutschland unterscheide. Statt der Angst, die auch schon in den Feuilletons um sich greife, sei die richtige Antwort, tatsächlich etwas zu unternehmen - "jenseits der Fixierung auf den roten Knopf, der so viele fasziniert". Als lobende Beispiele nennt Schlögel die Initiative der drei osteuropäischen Ministerpräsidenten, die Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew besucht und ihre Solidarität bekundet hätten - und Arnold Schwarzenegger. Dieser habe mit seinem von Millionen von Menschen gesehenen Video-Appell an Putin einen Weg gefunden, der tatsächlich etwas bewirken kann - "mehr, als Schriftsteller und Strategen sich ausgedacht haben." 

Gefährliche Euphemismen

Die belarussische Autorin, Übersetzerin und Linguistin Volha Hapeyeva ist dem Regime Alexander Lukaschenkos entkommen und lebt in München. 2020 erschien mit "Mutantengarten" ihr erster deutschsprachiger Gedichtband, 2021 ihr Debütroman "Camel Travel". Sie stehe im Kontakt mit einer befreundeten ukrainischen Linguistin, die auf der Flucht sei. Hapeyeva sagt: "Normale Sprache funktioniert nicht mehr", denn die Normalität an sich funktioniere nicht mehr. Und sie fragt: "Kann man dem Wort noch vertrauen?"

Volha Hapeyeva, steht vor einem Baumstamm und schaut direkt in die Kamera
Volha Hapeyeva, belarussiche Dichterin, Übersetzerin und Schriftstellerin Bild: Volha Hapeyeva

Als Belarussin sei es gefährlich, naiv zu sein. Sie selbst sei "als Skeptikerin aufgewachsen". Und bringt direkt ein konkretes Beispiel: Vor einigen Jahren habe sie in Minsk als Übersetzerin für die OSZE gearbeitet. Dabei durfte sie das Wort "Krieg" im Zusammenhang mit der Ukraine nicht benutzen. Ihre Chefin habe sie darauf hingewiesen, dass "Konflikt" das offizielle Wort sei. Der Diskurs sei damals schon manipuliert gewesen, und Hapeveya wurde klar: "Euphemismen können gefährlich sein." Sie sei überrascht, warum Journalisten immer wieder fragen, was Schriftsteller überhaupt tun könnten: "Jeder tut, was er kann, jeder hat eine andere Antwort. Jeder von uns kann etwas tun." Der Brief gegen Putin von Michail Schischkin, Romane wie Zhadans "Internat" und zahlreiche Gedichte seien doch schon vor Jahren geschrieben worden. "Wir machen das ständig! Man hört uns nur nicht immer."

Eindrücke aus Lwiw

Aus Lwiw (Lemberg) wird während des Panels der literarische Übersetzer Juri Durkot zugeschaltet. Er hat für seine Übersetzung von "Internat" den Leipziger Buchpreis gewonnen. Am Vorabend sind das erste Mal russische Raketen unweit des historischen Stadtgebiets explodiert. Lwiw habe, so Durkot, den Untergang seiner Kultur schon dreimal erlebt - im Ersten Weltkrieg, als die Österreicher Galizien verließen, während des Zweiten Weltkriegs zuerst mit Stalins Terror und später mit Hitlers Vernichtung der jüdischen Bevölkerung der Stadt. 

Was die Diskussion über die Ächtung russischer Autorinnen und Autoren angeht, sagt Durkot, dies sei eine Frage des Fingerspitzengefühls. Haben diese weggeschaut, das Regime unterstützt oder dagegen angeschrieben? Das müsse man sich ansehen und danach entscheiden. Die Hauptsache sei, dass man mit der Entscheidung dann "ruhig schlafen" könne.

"Wenn jeder etwas tut, ist es gut"

Michail Schischkin ist einer der meistgelesenen russischen Autoren. Seine Romane "Venushaar", "Briefsteller" oder "Die Eroberung von Ismail" wurden national und international vielfach ausgezeichnet. Seit 1995 lebt der studierte Anglist und Germanist in der Schweiz. Schon 2014 schrieb Schischkin, der Krieg im Donbass sei "das schlimmste Verbrechen". Im selben Jahr veröffentlichte er einen Brief an Europa mit dem Titel "Putins schwarzes Loch", in dem er mit sehr deutlichen Worte vor der Bedrohung warnte, die nun Realität geworden ist. Schischkin hat viele Freunde in der Ukraine und eine geflüchtete Familie aus Odessa bei sich zu Hause aufgenommen. 

Michail Schischkin auf einer Friedenskundgebung mit einer Kerze in der Hand
Michail Schischkin, hier auf einer Friedenskundgebung gegen den Krieg in der UkraineBild: Philipp Schmidli/KEYSTONE/picture alliance

Über Putin sagt er: "Er kann den Krieg nicht gewinnen und nicht verlieren. Er ist sein Ende, aber wie es aussieht, weiß niemand." Die NATO werde sich nicht in den Krieg einmischen, die Ukraine müsse "im Alleingang die russische Armee vernichten". Dabei müsse man sie unterstützen. "Wenn jeder etwas tut, ist es gut." Dass Putin noch immer viel Unterstützung in seinem Land genieße, liege nicht allein an der Propaganda. "In Russland gibt es zwei verschiedene Völker, die mental verschieden sind." Ein kleiner Teil habe schon europäische Werte, die Mehrheit lebe jedoch mit einer patriarchalen Gesinnung und einer Identifikation "mit dem Stamm". Zwischen beiden Gruppen liege eine Zivilisationslücke, die Putins Propaganda noch vergrößert habe.

Nur Literatur kann den Abgrund überwinden

Schischkin gibt im Laufe des Abends ein klares Statement ab: "Ich bin Russe. Im Namen meines Volkes werden diese Verbrechen verübt. Ich kann nur im Namen der anderen Russen die Ukraine um Vergebung bitten. Und ich weiß ganz genau, das kann man nicht vergeben." Die Deutschen hätten es nach dem Zweiten Weltkrieg nur aufgrund einer "vernichtenden Niederlage" geschafft, dem Teufelskreis der Diktatur zu entkommen. Nur so seien die "Stunde Null" und die Entnazifizierung durch die Alliierten möglich gewesen. Daher hoffe er, Schischkin, "auf eine vernichtende Niederlage der Russen durch die Ukrainer." Die "Entputinisierung" könnten die Russen danach nur selbst durchführen. Die Frage sei, ob sie dieser Aufgabe gewachsen seien. 

Dieser Krieg sei kein Krieg zwischen Russen und Ukrainern, sondern zwischen Menschen, die Ukrainisch und Russisch sprechen und Unmenschen, die Befehle befolgen. "Literatur versagt immer dann, wenn ein Krieg beginnt", so Schischkin gegen Ende des Panels. Irgendwann sei dieser Krieg aber vorbei, und "der Hass und der Schmerz werden bleiben. Und das kann man nur mit der Kultur überwinden. Es gibt keine andere Möglichkeit. Dann kommt die Literatur zur Sache! Dann werden wie sie brauchen, um den Abgrund zwischen uns zu überwinden."

Die Aufzeichnung des Panels "Nein zu Putins Krieg - Was kann Literatur leisten?" ist weiterhin auf literaturkanal.tv zu sehen.