Leon Draisaitl wird zum NHL-Superstar
2. Juni 2020Die Zahlen sprechen für sich: 110 Punkte in 71 Spielen, davon 43 Tore und 67 Assists -Leon Draisaitl hat Eishockey-Geschichte geschrieben. Als erster deutscher Profi hat der 24-Jährige die prestigeträchtige Art-Ross-Trophy für den besten Scorer der Hauptrunde in der National Hockey League (NHL) gewonnen.
Dass dem gebürtigen Kölner von den Edmonton Oilers diese besondere Auszeichnung zuteil werden würde, ging aus den Ausführungen des NHL-Commissioners Gary Bettman hervor. Bettman erklärte bei der Vorstellung der Pläne für die Fortsetzung der NHL-Spielzeit 2019/20, dass die seit dem 12. März wegen der Corona-Pandemie ausgesetzte Hauptrunde abgebrochen und die Saison direkt mit einem Play-off-Format weitergespielt werde. Die Liga hofft nun, die Saison mit 24 Mannschaften fortsetzen zu können und sie irgendwann, irgendwo mit einem Kampf der Besten um den Stanley-Cups beenden zu können.
Der Fokus vieler deutscher Eishockeyfans war in diesem Moment allerdings auf die Art-Ross-Trophy gerichtet, die jährlich an den Top-Scorer der regulären Saison verliehen wird. Damit steht Draisaitls erster großer individueller NHL-Titel fest. Er gewinnt ihn vor seinem Mannschaftskollegen Connor McDavid, der 97 Punkte verbuchen konnte und der die Auszeichnung in den Jahren 2017 und 2018 erhalten hatte. Draisaitl, der in der vergangenen Saison zum ersten Mal die 100-Punkte-Marke knackte, war sogar auf dem Weg, vielleicht sogar mehr als 120 Punkte zu holen, wenn der volle Spielplan von 82 Spielen gespielt worden wäre. Er hätte auch eine gute Chance gehabt, die 50-Tore-Grenze für eine zweite Saison in Folge zu durchbrechen.
In einem Videogespräch erklärte Draisaitl den zugeschalteten Reportern, er sei stolz auf die Leistung, die "etwas ist, wovon man als Kind träumt, keine Frage". Und er fügte hinzu, dass, bis man es tatsächlich verwirklicht, "alles weit weg erscheint".
Dank an die Mitspieler
Wie viele Preisträger vor ihm zeigt sich auch Draisaitl im Moment des Triumphes bescheiden. Er versuchte die individuelle Auszeichnung auch anderen zuzuschreiben. Und in der Tat steckt hinter seinem Erfolg ein ganzes Team. "Wenn man solche Zahlen erreicht, gibt es immer Menschen, die einem helfen, dorthin zu gelangen", sagte er. "Ich hatte das Glück, in den letzten zwei Jahren einige großartige Mannschaftskameraden und Mitstreiter zu haben, die mich wirklich zu einem besseren Spieler gemacht und mich dazu gedrängt haben, offensiv ein gefährlicher Spieler zu werden."
Steiniger Weg
Trotz der Tatsache, dass Draisaitl mit seinem dritten Platz in der Gesamtwertung des NHL Entry Draft 2014 die höchste Platzierung eines deutschen Eishockeyspielers überhaupt erreichte, wurde er in der besten Eishockeyliga der Welt nicht über Nacht zum Shootingstar.
Nachdem er 37 Spiele für die Oilers bestritten hatte, in denen er in der Saison 2014/15 als Neuling zwei Tore und vier Assists erzielte, wurde Draisaitl zurück in die Western Hockey League der Junioren geschickt. Dort blühte er dann mit den Kelowna Rockets auf und erzielte in den letzten 32 Spielen der Saison 53 Punkte.
Als der Beginn der Saison 2015/16 näher rückte, fand sich Draisaitl wieder bei den Profis wieder. Allerdings wurde er zunächst den Bakersfield Condors zugeteilt, dem Farmteam der Oilers in der zweitklassigen American Hockey League (AHL). Nach nur sechs Spielen in der AHL war er jedoch wieder zurück bei den Oilers. Dieses Mal, um dort zu bleiben.
Hilfreiche Degradierung
Wenn Draisaitl nun als Gewinner des Art-Ross zurückblickt, glaubt er, dass es ein Segen war, zu den Junioren zurückgeschickt zu werden. "Damals war ich (für die NHL) noch nicht bereit", sagte er unverblümt. Auf die Frage, welchen Rat er als aktueller Top-Scorer der NHL Talenten wie Tim Stützle mit auf den Weg geben würde, sagte Draisaitl: "Gut vorstellbar, dass er, wenn er eingewechselt würde, (Tim Stützle, Anm. d. Red.), sich zum Stammspieler entwickelt. Vielleicht kann auch er etwas Großes erreichen." Von Stützle wird erwartet, dass er im NHL-Draft in diesem Monat sehr hoch bewertet wird und damit gute Chancen auf einen Platz in einem Team hat.
"Aber wenn es einen Ratschlag gibt, den ich ihm vielleicht geben kann, dann den, dass es in Ordnung ist, einen Schritt zurückzutreten. Auf lange Sicht war es für mich das Beste, zu den Junioren zurückgeschickt zu werden und sogar die nächste Saison in der AHL zu beginnen." Folglich sei es manchmal eine gute Sache, einen Schritt zurückzutreten und sich im eigenen Tempo weiterzuentwickeln, betonte Draisaitl.
Goldene deutsche Eishockey-Generation?
Hinter Stützle gibts es noch andere Hoffnungsträger des deutschen Eishockeys: Moritz Seider legte im letzten Jahr als insgesamt Sechster im Draft die Messlatte sehr hoch. Die Frage, ob sich da eine "goldene Generation" deutscher Eishockeyspieler herausbilden könnte, beantwortete Draisaitl dann doch eher mit Zurückhaltung.
"Ich glaube, wir bewegen uns in die richtige Richtung", sagte er. "Deutschland ist einfach kein großes Eishockey-Land, aber wir können immer noch ein sehr solides Eishockey-Land werden, das gute junge Spieler entwickelt, und ich denke, dass wir in den letzten drei oder vier Jahren wirklich gute Arbeit geleistet haben".
NHL will der Bundesliga folgen
Als bester Scorer der NHL-Hauptrunde gehört Draisaitl nun auch zu den Favoriten auf den Gewinn der Hart Trophy als wertvollster Spieler der regulären Saison in der NHL. Es würde ihn zwar auch stolz machen, aber der Deutsche sagte, er das sei jetzt nicht sein Hauptziel. "Offensichtlich ist das ein Klischee, aber es ist letzten Endes wahr: Es gibt eine Menge Dinge in meinem Spiel, die ich verbessern kann, deshalb versuche ich das jedes Jahr zu tun", betonte er.
Die nächste Chance dazu kommt, wenn die NHL tatsächlich in diesem Sommer fortgesetzt wird. Draisaitl bestätigte, dass seine Liga die deutsche Fußball-Bundesliga aufmerksam verfolgt hat, um aus dem Hygiene-Konzept der Liga Lehren für einen sicheren Wiederbeginn zu ziehen.
Die Oilers beginnen ihren Weg zum erhofften ersten Stanley-Cup seit 1990 mit einer Qualifikationsserie von fünf Spielen gegen die Chicago Blackhawks. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass jedes Team, das in die Playoffs der 16 Mannschaften kommt, eine Chance auf den Gewinn des Pokals hat. Aber wenn sie es schaffen wollen, brauchen die Oilers ihren deutschen Star, der dort weitermachen möchte, wo er aufgehört hat - vor dem Ausbruch der Pandemie.