Lesbos: Europa im selbstgemachten Chaos
14. September 2020"Ich will auf keinen Fall in die neue Unterkunft. Ich will weg aus Lesbos," sagt Reza. Der junge Afghane spricht gut Englisch. Wie tausende weitere Flüchtlinge verharrt auch er auf der Küstenstraße zwischen der Inselhauptstadt Mytilini und dem kleinen Dorf Panagiouda, malerisch gelegen an einer Meeresbucht, an der sich Cafés und Restaurants säumen. Auf der anderen Seite der Bucht sieht man eine Anreihung von Zelten. Auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz errichtet die griechische Regierung in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfwerk der Vereinten Nationen seit Samstag ein vorübergehendes Lager. Gut 500 der obdachlosen Menschen sind bereits dort eingezogen. Bald soll für alle Platz sein. "Ich fühle mich hier sicherer", sagt ein Syrer, der sich unter den ersten Flüchtlingen befindet, die sich freiwillig in die neue, temporäre Unterkunft begeben.
Für Reza aber ist das keine Alternative. Er ist gut gelaunt. "Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen", erzählt er am Samstag und lächelt. Die Hoffnung, Lesbos endlich zu verlassen, ist größer als der Hunger oder die Angst. So geht es vielen Menschen, die auf der Hauptverkehrsstraße ihr eigenes, temporäres Lager eingerichtet haben. Hier stehen die provisorischen Unterkünfte nicht in Reih und Glied wie in der kleinen Zeltstadt, die die Regierung errichtet hat. Hier herrscht Chaos.
Das griechische Militär, das eigentlich für die Lebensmittelverteilung zuständig ist, lässt die auf der Insel ungeliebten NGOs (Nichtregierungsorganisationen) Nahrung und Wasser verteilen. Dabei kommt es anfangs mitunter zu dramatischen Szenen. Kleinbusse fahren durch das Areal. Die Autotüren öffnen sich und durstige Menschen, die seit Stunden in der Hitze ausharren, sehen Wasser in den Wagen. Sie rennen ihnen hinterher. Die überforderten Helfer versuchen die Flüchtlinge durch Rufe zurückzuhalten. Sie werfen die Flaschen in die Menge. Menschen prügeln sich und stürzen. Eine Frau liegt bewusstlos am Boden. Ein Mann bricht sich den Arm.
Keine Struktur, keine Sicherheit
Für solche Ausnahmesituationen sind die NGOs weder ausgerüstet noch ausgebildet. Doch sie lernen. Am nächsten Tag bilden sie eine Menschenkette und schaffen es, eine einigermaßen geordnete Essensausgabe zu organisieren. Am Sonntag dann packen sie Essen, Brot und Obst portionsweise in Tüten, um noch mehr Struktur zu schaffen. Die vielen Helfer sind hochmotiviert. Sie sind unbezahlt und kommen selbst für Unterkunft und Reisekosten auf. Junge Menschen aus vielen Ländern arbeiten zusammen, um die vielen Versäumnisse der europäischen Asylpolitik und dem Organisationschaos der griechischen Behörden ein wenig Menschlichkeit entgegenzusetzen.
"Die ersten Tage nach dem Feuer waren hart. Die Menschen waren überall und die Straßen blockiert. Es war schwierig sie zu erreichen" , erklärt Henk Dinkelman, Freiwilligenbetreuer der Organisation Euro Relief, die bereits im Moria-Camp für die Unterbringung der Geflüchteten zuständig war und auch nach dem Brand die Grundversorgung organisiert. Außerhalb des Lagers aber gestaltet sich das schwierig. "In Moria haben wir über die nötigen Strukturen verfügt, um die Essensverteilung organisiert durchzuführen." Unter diesen Umständen aber brauche man Zeit, um alles neu aufzustellen. "Derzeit benutzen wir Autos, aber natürlich bedarf es bestimmter Einrichtungen, um alles besser zu organisieren."
Dabei könnten sie professionelle Hilfe gut gebrauchen. Nach fünf Tagen hatte die griechische Regierung es geschafft, hinter Stacheldrahtzaun Zelte aufzubauen und Schlafplätze bereitzustellen. Man hat einen Catering-Service beauftragt. Doch provisorische Toiletten und eine den Umständen angepasste Grundversorgung zur Verfügung zu stellen, dazu reicht dort es nicht. Auch nicht mit Hilfe der Armee, die auf Abruf bereitsteht und nach Erklärung des Ausnahmezustandes sogar das Sagen hat.
Kontrolle durch Abschirmung
Seit Sonntag ist Journalisten der Zutritt zu der Straße untersagt, auf der sich ein Großteil der Flüchtlinge und Migranten aufhält. Bereits an den Vortagen müssen Kamerateams ihre Autos hinter den ersten Absperrungen parken und den Rest des Weges laufen. Fahrzeuge mit lokalen Kennzeichen werden durchgewunken. Mitunter dürfen sie sogar die gesamte Straße passieren, vorbei an den neuen Obdachlosen der Insel.
Auch in und um das neue temporäre Camp ist die Bewegungsfreiheit der Presse eingeschränkt. Einige umgehen die Absperrungen und erreichen das Areal über die Hügel. Andere sind schon seit den frühen Morgenstunden bei den vielen Geflüchteten.
Offiziell gibt es für Journalisten nur geführte Begehungen des temporären Camps und Stellungnahmen der zuständigen Minister. Der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis erklärt: "Vom ersten Tag an war unsere Priorität die Sicherheit aller Beteiligten, der Asylsuchenden und der lokalen Bevölkerung. Nachdem wir diese Sicherheit und die ständige Versorgung mit Essen, Wasser und medizinischer Betreuung gewährleistet haben, haben wir bereits ein paar tausend Schlafplätze in diesem Übergangslager geschaffen."
Fast könnte der Eindruck entstehen, als sei über Nacht ein Wunder passiert. Doch die Berichte der Journalisten, die es in die abgesperrte Zone geschafft haben, zeigen ähnliche Szenen wie am Vortag. Immer wieder Ansätze von Aufbegehren von Seiten der Flüchtlinge. Einige provozieren die Beamten gezielt. Gewalt erzeugt die höchste Aufmerksamkeit.
Lesbos zahlt für Europa
Nach dem verheerenden Feuer in Moria hatten Brüssel und Athen den Bau eines neuen Lagers auf der Insel angekündigt. Auf Lesbos will das niemand. Die Regierungen in West-Europa aber scheint das wenig zu interessieren. Kaum jemand will Migranten aufnehmen. Die Sorge geht um, dass man Flüchtlinge auf den anderen Inseln so dazu ermuntern würde, auch dort die Lager in Schutt und Asche zu legen - nur, um endlich in Ländern untergebracht zu werden, in denen man ihnen eine Perspektive bieten könnte.
Dabei ist die Frist, eine Lösung zu finden, mit der man Bilder wie die aus Lesbos hätte verhindern können, längst abgelaufen. Leere Versprechungen von europäischen Lösungen bringen eben keinen Mehrwert. Griechenland kann es sich ohnehin nicht erlauben, bequem die Augen zu verschließen. Die geographische Lage des Landes macht es nicht möglich, das Problem zu ignorieren.
Eines steht fest: Flüchtlinge werden auch in Zukunft kommen. Dann wird ein einzelnes, neues Lager wohl kaum ausreichen, um Schutzbedürftige aus dem europäischen Sichtfeld zu halten.