Linke emanzipiert sich von Lafontaine
16. Juni 2013Es ist ein Bild voll widersprüchlicher Symbolik: Drei Monate vor der Bundestagswahl im September sitzt Oskar Lafontaine auf dem Parteitag der Linken in Dresden zwar in der ersten Reihe, wirkt aber wie ein Hinterbänkler. Mit diesem wenig schmeichelhaften Wort werden in Deutschland Politiker bezeichnet, die selten im Rampenlicht stehen und wenig Einfluss haben. Lafontaine aber verkörperte über Jahrzehnte das Gegenteil: Machtbewusst und machtbesessen strebte er in seinem ersten politischen Leben als Sozialdemokrat höchste Ämter an. Höhepunkte waren 1995 der SPD-Vorsitz und drei Jahre später der Posten des Finanzministers in der ersten rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder.
Beide Ämter legte Lafontaine 1999 völlig überraschend nieder, weil ihm der Kurs seines damaligen Parteifreundes und Kanzlers zu wirtschaftsfreundlich war. Auch auf sein Bundestagsmandat verzichtete der Saarländer und verschwand vorübergehend von der politischen Bühne. Doch sein Ehrgeiz und sein Groll auf viele Weggefährten aus SPD-Zeiten waren viel zu groß, um sich auf Dauer mit der Rolle des gelegentlichen Zwischenrufers zufrieden zu geben.
Schröder und die "Agenda 2010"
Auslöser für Lafontaines Comeback war wiederum Gerhard Schröder. In seiner 2002 begonnen zweiten Kanzlerschaft vollzog er gemeinsam mit der früheren Protestpartei Bündnis 90/Die Grünen einen sozialpolitischen Schwenk, den viele Genossen als Verrat an sozialdemokratischen Überzeugungen auffassten. Mit der "Agenda 2010" ebnete die SPD den Weg in einen von der Wirtschaft stetig ausgeweiteten Niedriglohnsektor. Der radikale Umbau des Soziastaats kostete die SPD viele Tausend Mitglieder und die Macht.
Die tiefe Krise der gerade 150 Jahre alt gewordenen einstigen Arbeiterpartei war mit zeitlicher Verzögerung die Geburtsstunde der 2007 gegründeten Linken, deren Vorsitz Oskar Lafontaine sich mit Lothar Bisky teilte. Mit der neuen Partei entstand im 1990 wiedervereinigten Deutschland erstmals eine politische Kraft links von der SPD, die auch im Westen Fuß fassen konnte. Der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), hervorgegangen aus der DDR-Staatspartei SED, ist der Sprung aus dem Osten in den Westen nie gelungen. Zu groß war die Ablehnung einer politischen Organisation, deren Vorgängerin die Berliner Mauer und die Toten an der innerdeutschen Grenze zu verantworten hatte.
Elfmal zog die Linke in westdeutsche Parlamente ein
Erst als die PDS mit enttäuschten Sozialdemokraten und Gewerkschaftern die Linke gründeten und mit Lafontaine in den Wahlkampf zogen, schlug die Stunde der Sozialisten. Bei der Bundestagswahl 2009 landete die Linke mit ihrem Spitzenkandidaten Lafontaine bei fulminanten 11,9 Prozent. Das entsprach fast exakt dem Verlust (11,2 Prozent) der SPD, die auf ein historisches Tief von 23 Prozent abstürzte. Bemerkenswert waren die Ergebnisse in den westdeutschen Bundesländern: Der Spitzenwert wurde in der SPD-Hochburg Bremen erzielt (14,3 Prozent), der niedrigste im traditionell konservativen Bayern (6,5 Prozent).
Der Lafontaine-Effekt zahlte sich auch bei Landtagswahlen aus. Seit ihrer Gründung 2007 zog die Linke elfmal in westdeutsche Landesparlamente ein. Doch die Siegesserie endete 2012, als der erneute Einzug in die Volksvertretungen Schleswig-Holsteins und Nordrhein-Westfalens ebenso missglückte wie Anfang dieses Jahres in Niedersachsen. In allen drei Bundesländern scheiterte die Linke deutlich an der Fünf-Prozent-Sperrminorität.
Die Gräben waren zwischen Ost und West
Auch die Niederlagen haben viel mit Lafontaine zu tun. Wegen einer inzwischen überwundenen Krebserkrankung zog er sich 2010 aus dem Bundestag zurück und legte den Parteivorsitz nieder. Schon bald zeigte sich, dass die Gräben zwischen ost- und westdeutschen Linken einerseits sowie Reformorientierten und Fundamentaloppositionellen andererseits tiefer sind, als es viele wahrhaben wollten. Sie wurden Dank der Autorität Lafontaines und der wesentlich ihm zu verdankenden Erfolge nur vorübergehend, aber nie ganz zugeschüttet.
Auf dem Göttinger Parteitag 2012 stand die Linke kurz vor der Spaltung. Der aus dem Osten stammende Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi sprach offen von Hass zwischen den Lagern. Die politisch inspirierte Männerfreundschaft zwischen den begnadeten Rednern Gysi und Lafontaine bekam Risse, die nicht mehr zu kitten waren. Im Hintergrund versuchte Lafontaine weiterhin die Fäden zu ziehen, die er längst nicht mehr alle in der Hand hielt. Pikant war in diesem Zusammenhang, dass seiner wie Gysi aus dem Osten stammenden Lebensgefährtin Sahra Wagenknecht Ambitionen auf den Parteivorsitz nachgesagt wurden.
Gysis Rede klingt wie eine Abschiedsrede auf Lafontaine
Schließlich endete der Göttinger Parteitag mit einem Kompromiss, der im Rückblick wie ein halbwegs erfolgreicher Abnabelungsprozess von Oskar Lafontaine aussieht. Als neue Doppelspitze fungieren seit einem Jahr die sächsische Bundestagsabgeordnete Katja Kipping und der zuvor sogar in Parteikreisen weitgehend unbekannte Bernd Riexinger aus Baden-Württemberg. Dem unerwartet ins Amt gelangten Duo ist es seitdem gelungen, die Linke einigermaßen zu befrieden. Den Rückschlägen bei Landtagswahlen stehen stabile bundesweite Umfragewerte zwischen sechs und neun Prozent gegenüber.
Dass die Linke bei der Bundestagswahl am 22. September höchstwahrscheinlich erneut in den Bundestag einziehen wird, darf sie ein Jahr nach dem Chaos-Parteitag in Göttingen durchaus als positive Überraschung verbuchen. Gregor Gysi gibt als Ziel sogar schon selbstbewusst ein zweistelliges Ergebnis aus. Zugleich erinnerte er die Delegierten auf dem Parteitag in Dresden an die Verdienste Lafontaines. Gysis Worte wirkten – unbeabsichtigt – schon wie eine Abschiedsrede auf den ehemaligen Partei- und Fraktionschef, der wenige Tage vor der Bundestagswahl seinen 70. Geburtstag feiern wird.
(K)eine bundesdeutsche politische Kraft
Auf seinem womöglich letzten Bundesparteitag verzichtete Lafontaine darauf, selbst das Wort zu ergreifen. Er hätte es tun können, um seine Position zum Euro zu rechtfertigen. Kurz vor dem Parteitag hatte er in einem Zeitungsinterview dafür plädiert, die Gemeinschaftswährung in ihrer bestehenden Form aufzugeben. Seine Nachfolger an der Parteispitze und Fraktionschef Gysi wiesen Lafontaines Vorstoß jedoch zurück. Es war das letzte und deutlichste Zeichen dafür, wie sehr sich die Linke schon von ihrem Geburtshelfer und Gründungsvater emanzipiert hat.
Sollte die Linke bei der Bundestagswahl mit einem respektablen Ergebnis wieder in den Bundestag einzuziehen, dann vor allem Dank ihrer Verwurzelung und Stärke im Osten. Der durch Lafontaine bewirkte westdeutsche Einfluss dürfte dann allerdings wesentlich geringer sein, als es im Moment noch der Fall ist. Dem Anspruch, eine in ganz Deutschland relevante politische Kraft zu sein, könnte die Linke dann aber kaum mehr gerecht werden.