Long-COVID-Studie: Auch unwissentlich Infizierte gefährdet
20. Dezember 2021Long-COVID ist als Erkrankung für Mediziner schwer zu fassen. "Diese Viruserkrankung ist ein Chamäleon", sagte Ulrich Förstermann, Dekan der Universitätsmedizin an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz auf einer Pressekonferenz am 20. Dezember. "Es kann ganz unterschiedliche Formen annehmen". Für Hausärzte ist es fast unmöglich eindeutig festzustellen, ob die Symptome mit einer ehemaligen COVID-19 Erkrankung in Verbindung stehen oder nicht.
Norbert Pfeiffer, medizinischer Vorstand der Uniklinik, betont, dass es angesichts einer langen Liste von mehr als 60 verschiedenen Symptomen, die mit Long-COVID in Zusammenhang stehen, sehr schwierig sei, eine klare Diagnose zu treffen.
Am häufigsten klagen Betroffene über Abgeschlagenheit, Müdigkeit, aber auch Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Schwindel. Doch Spätfolgen der Infektion können auch bis hin zu multiplen Organerkrankungen, zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Blutgerinnseln und sogar Herzinfarkten und Schlaganfällen sowie zu verschiedenen Nervenerkrankungen führen.
Weil die Symptome meist sehr unspezifisch sind, kommen viele Mediziner gar nicht unbedingt auf die Idee, dass die Symptome etwas mit dem Virus zu tun haben könnten.
Große Studie bringt Licht ins Dunkel von Long-COVID
Um die Erkrankung besser greifbar zu machen, baut die Universitätsmedizin in Mainz daher auf einer langfristig angelegten Patientenstudie auf, der sogenannten Gutenberg-Gesundheitsstudie. Daran nehmen seit Jahren etwa 15.000 Menschen aus Rheinland-Pfalz teil. Ein großer Teil davon macht nun auch bei der seit anderthalb Jahren laufenden COVID-Studie bzw. einer daraus entstandenen Long-COVID-Studie teil.
Insgesamt 10.250 Menschen aus Mainz und dem angrenzenden Landkreis Mainz-Bingen lassen sich seitdem immer wieder an der Uniklinik untersuchen. 80 Prozent von ihnen, nämlich die Teilnehmer zwischen 45 und 88 Jahren, kamen alle aus der vorherigen Gutenberg-Gesundheitsstudie. Über sie lagen also auch schon vor der Pandemie umfassende Gesundheitsdaten vor. Die jüngeren Teilnehmer, zwischen 25 und 44 Jahren, stießen erst später dazu.
Das Besondere: Alle Probanden werden in den verschiedensten Fachbereichen der Uniklinik auf Herz- und Nieren untersucht. Viele berichten zudem wöchentlich über ihren Gesundheitszustand per App an die Forschenden. Alles in Allem, sei das ein "Schatz, den es zu heben gilt" sagte der rheinland-pfälzische Minister für Wissenschaft und Gesundheit Clemens Hoch.
Viele Menschen wissen gar nicht, dass die COVID-19 haben
Zwar läuft die Langzeitstudie noch, doch gibt sie einiges ihres Schatzes schon jetzt preis. So hat sich etwa gezeigt, dass gut ein Drittel der Menschen, die, durch einen serologischen Bluttest nachgewiesen, mit dem Coronavirus infiziert waren, das gar nicht wussten.
Risikofaktoren für eine COVID-19 Erkrankung waren insbesondere schlechte Wohnverhältnisse, sagte etwa Universitätsmediziner Pfeiffer. Und es sei klar, dass auch von COVID-19 Genesene noch lange nicht gesund sind.
Philip Wild, Leiter der Studie, berichtete. Dass 4,9 Prozent der Bevölkerung bereits infiziert waren, betonte aber, dass er mit einer deutlichen Zunahme dieser Zahl durch die Omikron-Variante rechne.
Unbewusst Infizierte und Nicht-Infizierte beklagen Leistungsabfall
Nur 61,9 Prozent der Infizierten waren sich ihrer Infektion überhaupt bewusst, 35,1 Prozent hatten asymptomatische oder so milde Verläufe, dass sie nicht von einer Coronavirus-Infektion ausgegangen waren. Umso überraschender ist, dass einige trotz des anfänglichen asymptomatischen Verlaufs nicht völlig vor Long-COVID gefeit waren.
Immerhin 48,2 Prozent der unwissentlich Infizierten zeigten zumindest vorübergehend milde Long-COVID-Symptome, 8,6 Prozent mäßige und 1,5 Prozent, schwere. Zum Vergleich: Unter denen, die wussten, dass sie COVID haben, erlitten 51,9 Prozent milde Long-COVID-Symptome, 28,6 Prozent mäßige und 12,6 Prozent schwere.
Langfristig betrachtet relativierte sich das Bild indes wieder: Der Anteil derjenigen, die unbewusst infiziert waren und denen es nach Abklingen der Erkrankung gesundheitlich schlechter ging als vor der Pandemie betrug mit 22,4 Prozent nur unwesentlich mehr als unter denen, die gar nicht infiziert waren (22 Prozent).
Es könnte also sein, dass die Pandemie und die damit verbundenen Lockdown-Umstände allgemein zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Menschen geführt haben. Gerade das macht es Medizinern nicht leichter, Long-COVID eindeutig zu identifizieren. Am ausgeprägtesten war der Effekt noch unter denen, die auch anfangs schon symptomatisch an COVID-19 erkrankt waren (29,8 Prozent).
Die meisten Patienten kurierten sich Zuhause aus
Die meisten Infizierten, nämlich 90,7 Prozent, hatten ihre Infektion zuhause ohne ärztliche Behandlung überstanden. 5,8 Prozent mussten ins Krankenhaus. Nur 3,5 Prozent wurden ambulant behandelt.
Gut 30 Prozent aller infizierten Studienteilnehmer berichteten, dass sie ihre vorherige körperliche Leistung nach der Infektion nicht mehr erreichten. Dabei spielte es nur eine geringe Rolle, ob die Infektion symptomatisch oder asymptomatisch verlaufen war. Im alltäglichen Leben fühlten sich etwa 15 Prozent eingeschränkt und im Arbeitsleben mehr als sechs Prozent der Betroffenen.
Das Alter der Betroffenen spielte bei der Ausprägung von Long-COVID nur eine geringe Rolle. Bei älteren Menschen war es etwas ausgeprägter. Deutlicher war indes der Geschlechtsunterschied. Unter Frauen litten 45,8 Prozent der Infizierten unter Long-COVID-Symptomen. Unter Männern waren es nur 34,6 Prozent.
Und für Betroffene wichtig: Mit der Zeit gehen die Symptome zurück, aber es verbleibt dennoch eine Gruppe, die unter dauerhaften Symptomen leidet, sagte Wild.
Long-COVID-Studie geht weiter
Nun möchten die Forschenden mit einer weiteren vertieften Untersuchung von 600 Probanden die Ergebnisse noch weiter zuspitzen. Dabei geht es etwa darum, molekulare Signaturen zu identifizieren, also eindeutige Indizien, die zeigen, dass ein Symptom auf Long-COVID zurückgeht und nicht etwa eine ganz andere medizinische Ursache hat. Dazu soll eine Biodatenbank helfen, die derzeit im Aufbau ist.
Auch möchten die Mediziner wissen, warum es zu den beobachteten geschlechtsspezifischen Unterschieden kommt und ob es möglich ist, Patienten mit diesem Wissen gezielter zu behandeln.
Vor allem aber steht noch die Frage im Raum, ob und wie eine Impfung sich auf den Heilungsprozess auswirkt und welche Long-COVID-Patienten wo am besten aufgehoben sind: bei Hausärzten, Fachärzten oder Spezialambulanzen.