Malaysia: einsame Dschihadisten
18. Juli 2024Ein abgelegenes Dorf, weit weg von allem großstädtischen Leben. Baufällige Häuser, Wenig Fremde, ein eintöniges Leben: Das Leben bot Radin Luqman wenig Abwechslung. Nicht einmal zur Schule war der 21-Jährige gegangen - unterrichtet wurde er zu Hause, in einer Familie, die geprägt war vom dschihadistischen Gedankengut der radikalislamistischen, ursprünglich aus Indonesien stammenden Jemaah Islamiya (Islamische Zusammenkunft, JI).
Es könnten diese Umstände gewesen sein, heißt es in einem Essay der mit der politischen und gesellschaftlichen Analyse Südostasiens befassten Webseite Fulcrum, die Luqman zu seinem Terrorakt getrieben hatten. Am 17. Mai dieses Jahres hatte er eine Polizeistation in Ulu Tiram angegriffen, gelegen im Bundesstaat Johor im äußersten Süden Malaysias. Der nur mit einem Messer bewaffnete Mann drang in die hinteren Räume der Station ein und erstach einen diensthabenden Beamten. Dabei entwendete er dessen Dienstwaffe, die er dann bei einem Schusswechsel mit zwei weiteren Polizisten einsetzte. Einen von ihnen erschoss er, der andere wurde verletzt. Er selbst wurde bei dem Schusswechsel getötet.
Zunächst war in den Medien der Verdacht geäußert worden, Radin Luqman könnte Verbindungen zur JI gehabt haben. Dies stellte sich im Laufe der Untersuchungen aber als falsch heraus: Allein der Vater des jungen Mannes war der dschihadistischen Organisation verbunden. Inzwischen halten die Behörden Luqman für einen "einsamen Wolf", einen Einzeltäter. Nicht auszuschließen ist, dass ihn auch der Krieg zwischen Israel und der islamistischen Hamas im Gazastreifen zu seiner Tat motiviert hat.
"Eine isolierte Tat"
Davon geht auch Saskia Schäfer vom Institut für Asien- und Afrikastudien der Humboldt Universität Berlin aus. Der Dschihadismus habe in Malaysia kaum eine Rolle gespielt und tue das auch weiterhin nicht. "Bei dem Anschlag dürfte es sich hier um eine isolierte Tat gehandelt haben", so die Politologin im DW-Interview. Es sei schwer vorstellbar, aus welchen Quellen sich eine dschihadistische Bewegung in Malaysia speisen sollte. "Solche Bewegungen entstehen in aller Regel ja nicht einfach spontan, sondern werden von bestimmten Interessen und Akteuren genährt - und die gibt es so in Malaysia nicht."
Ähnlich sieht es der Politikwissenschaftler Andreas Ufen vom Hamburger German Institute for Global and Area Studies (GIGA). In Malaysia habe es über viele Jahre keine Anschläge mehr gegeben. "Zwar gibt es eine Reihe kleinerer dschihadistischer oder gewaltbereiter islamistischer Gruppierungen. Aber diese stellen keine ernsthafte Gefahr dar. Sie sind kaum in der Lage, die nationale Sicherheit oder die elektorale Demokratie zu gefährden."
Einsame Täter
Tatsächlich überwachen die malaysischen Sicherheitsbehörden mögliche Dschihadisten konsequent. So wurde im Juni Muhammad Sani verhaftet. Er wird verdächtigt, über sein Facebook-Konto den IS zu unterstützen und im Besitz vom IS vertriebenen Materials zu sein. Wegen ähnlicher Delikte war er bereits 2016 und 2018 angeklagt worden. Härteren Vorwürfen sieht sich Aabid Zarkasi gegenüber: Der ebenfalls im Juni verhaftete 28 Jahre alte Mann soll versucht haben, Sprengstoff herzustellen, um damit einen Anschlag im Namen des IS zu verüben. Auch Zarkasi ist den Behörden seit Jahren bekannt.
Einem Bericht der Webseite The Diplomat zufolge sind die Einzeltäter ein Teil der dschihadistischen Szene des Landes. Handeln sie nicht allein, dann in kleinen Zellen - oftmals die eigenen Familien, ein enger, verschworener Verband, den Sicherheitskräfte kaum unterwandern können. Neben der eigenen Familie oder sehr engen Freunden spiele das Internet bei der Rekrutierung junger Dschihadisten eine Rolle. Lange Zeit, so The Diplomat, waren die entsprechenden Seiten prominenter malaysischen Kämpfer mit Kampferfahrung im Irak und in Syrien eine wichtige Inspirationsquelle. Doch viele von ihnen fanden während der um 2014 einsetzenden systematischen Zerschlagung des IS im Nahen Osten den Tod. Die Propaganda übernahmen daraufhin andere dschihadistische Influencer.
Kaum Unterstützung für Dschihadismus
Allerdings gebe es in Malaysia keine nennenswerten Kräfte und Akteure, die ein Interesse daran hätten, dschihadistische Bewegungen zu unterstützen, sagt Saskia Schäfer. "Hinzu kommt, dass die Regierung eine sehr starke Kontrolle ausübt. Man muss bedenken, dass der malaysische Staat autoritär organisiert ist und auch die Religion reguliert und kontrolliert. In diesem Umfeld haben radikale islamistische Bewegungen wenig Chancen, Mitglieder anzuwerben ", so Schäfer.
Ähnlich sieht es Andreas Ufen. Die meisten Parteien des multiethnischen Landes, insbesondere die vor allem von chinesisch- und indisch-stämmigen Bevölkerungsteilen gewählten, seien eher säkular orientiert. Mögliche islamistische Dynamiken, die sich aus den Spannungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ergeben könnten, würden durch die Malaysische Islamische Partei, im Land selbst als PAS bekannt, in starkem Maß absorbiert. "Orthodox islamische bis islamistische Positionen werden in die Politik der PAS gewissermaßen eingespeist und von ihr aufgenommen. In ihrer eher moderaten Grundausrichtung ist die PAS in der Lage, auch reaktionäre Strömungen aufzufangen und in die Parteipolitik einzuführen, so dass es außerhalb von ihr kaum Platz gibt, um den Dschihadismus groß werden zu lassen."
Hinzu komme, dass die malaysische Regierung - seit November 2022 steht ihr der gemäßigt islamische Premier Anwar Ibrahim vor - selbst insofern teils islamisch sei, als sie islamische Regeln durchsetze, sagt Saskia Schäfer. "Das heißt, dass islamisch formulierte Anliegen innerhalb des vorgegebenen juristischen Rahmens auch von aufgefangen und bedient werden."
Unterschiede zu Indonesien
Die dschihadistische Szene in Malaysia unterscheidet sich von der im benachbarten Indonesien. Diese ist zum einen größer und zugleich viel weniger kontrolliert. Das liege nicht zuletzt an der Zahl der Bevölkerung, sagt Saskia Schäfer. In Indonesien leben rund 280 Millionen Einwohner, davon sind 34 Millionen Muslime. Malaysia hingegen Einwohner, darunter 21 Millionen Muslime. Außerdem sei die Zivilgesellschaft in Indonesien längst nicht so strenger Kontrolle unterworfen, so dass sie erheblich leichter Einfluss ausüben könne. Ein weiterer Grund liege in der Vergangenheit des Landes: Nach einem bis heute ungeklärtem Putschversuch im Jahr 1965 machte der damalige General Suharto für diesen die Kommunisten und linke Opposition des Landes verantwortlich. "Von den darauf folgenden Massakern hat sich die politische Linke nie wieder politisch erholt. So kommt es, dass soziale Probleme sehr häufig in islamistischem Vokabular artikuliert werden", so Schäfer.
Hinzu komme, dass Malaysia aus der Zeit der Kolonialherrschaft einen sehr starken Sicherheitsapparat geerbt habe, sagt Andreas Ufen. "Der wurde zur Mitte des 20. Jahrhundert noch einmal zusätzlich ausgebaut." Ufen weist zudem auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände in weiten Teilen Indonesiens Landes nach dem Rücktritt des damaligen Präsidenten Suharto 1998 hin. "In dieser Zeit entwickelten sich zahlreiche ethnische und religiöse Konflikte, deren Erbe bis in die Gegenwart reicht." Zudem sei die indonesische Bevölkerung insgesamt erheblich ärmer als die in Malaysia. "Auch daraus entstehen Konflikte und - auch religiös - artikulierte Animositäten. "Die werden von den Parteien anders als in Malaysia aber nicht aufgefangen. Das dortige Parteiensystem hat sich von der Gesellschaft in Teilen abgeschottet, so dass entsprechende Strömungen von unten nach oben nicht durchdringen. Auch das trägt zur Radikalisierung bei", so Ufen.
Sorge um "Wohlergehen der Gesellschaft"
Doch auch die malaysische Regierung sieht sich einigen Aufgaben gegenüber, deutet die Analyse von "Fulcrum" an. Zwar täten die Behörden von Johor gut daran, den Sicherheitsapparat des Staates auszubauen und vor den Gefahren der Radikalisierung zu warnen, heißt es dort. "Sie müssen sich jedoch auch mit dem gesellschaftlichen Wohl, der psychischen Gesundheit, der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit, einem gleichberechtigten Zugang zu Bildung und dem Problem der Marginalisierung befassen", so die Webseite mit Blick auf die Herkunft des Attentäters von Ulu Tiram. "Selbst wenn der Verdächtige religiös motiviert war, hatten seine sozialen, wirtschaftlichen, familiären und gesellschaftlichen Umstände ebenfalls Einfluss auf seine Auslegung religiöser Texte und damit auch auf seinen Entschluss, Gewalt einzusetzen."