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"Man muss sich ins Gesicht schauen"

Das Gespräch führte Ibrahim Mohamad12. Januar 2005

Wolfgang Thierse plädiert für einen intensiven Dialog mit der arabischen Welt. Lesen Sie hier das gesamte Interview des Bundestagspräsidenten mit DW-WORLD.

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Wolfgang Thierse (2. v. l.) in der Fathi-Mosche nahe DüsseldorfBild: AP

DW-WORLD: Deutschland verstärkt seine Bemühungen um Dialog mit der arabischen Welt. Was hat man erreicht?

Wolfgang Thierse: Zunächst mal hat man die Kontakte verbessert. Der Dialog zwischen Deutschland und Europa auf der einen Seite und der arabisch-islamischen Welt auf der anderen Seite wurde in Gang gesetzt und intensiviert. Das ist schon an sich wertvoll, unabhängig von den Ergebnissen im Einzelnen.

Auf welchem Gebiet sollte man diesen Dialog konzentrieren?

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse Interview mit Ibrahim Mohamad arabische Redaktion DW-Online Foto: Olof Pock
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (r.) im Interview mit Ibrahim Mohamad von der arabischen Redaktion von DW-WORLD.Bild: DW

Der Dialog muss ganz verschiedene Themen berühren. Natürlich geht es um politische Fragen. Deutschland und die arabische Welt haben ein gemeinsames Interesse an einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts. Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, dass es im Irak eine stabile demokratische Entwicklung gibt. Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, dass die Spannungen mit dem Iran sich nicht verschärfen. Zweitens geht es natürlich auch um wirtschaftlichen Austausch. Der Nahe Osten, Saudi-Arabien und die Nachbarländer sind für Europa und Deutschland ganz wichtig als Erdölländer und als wirtschaftliche Partner. Drittens geht es um den kulturellen Austausch und den religiösen Dialog. Denn es ist Fremdheit zu überwinden, Vorurteile sind abzubauen und das kann man nur, indem man sich besser kennen lernt. Um Unterschiede wahrzunehmen, aber auch, um Gemeinsamkeiten festzustellen. Das kann man nicht via Fernsehen, auch nicht via Zeitung. Dazu muss man wirklich miteinander reden und sich ins Gesicht schauen.

Im Dialog mit der arabisch-islamischen Welt tritt der Westen oft als Lehrer auf. Wie kann Deutschland eine andere Rolle übernehmen als diese?

Ich bin nicht sicher, ob der Westen als Lehrer auftritt. Es gibt ja andererseits auch Vorwürfe aus der arabisch-islamischen Welt gegen den Westen, Anklagen heftigster Art. Von einem Teil des Islams auch eine Art von missionarischem Sendungsbewusstsein, den Westen bekehren zu wollen zu einem Leben in Gottesfurcht. Umgekehrt sagt der Westen, friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religion setzt die Bereitschaft und Fähigkeit zu Toleranz voraus, das Ja zu religiösem Pluralismus. In den meisten islamisch geprägten Ländern gibt es Religionsfreiheit jedoch nicht wirklich. Sie ist aber eine Voraussetzung für Frieden. Das ist die europäische Erfahrung, die wir nicht unterdrücken können. Die Erfahrung eines Kontinents, der Jahrhunderte lang Kriege geführt hat, auch Religionskriege. Das wurde erst mit dem Prinzip der Religionsfreiheit und der Trennung von Kirche und Staat überwunden. Das war ein langer und mühseliger Prozess, der aber zu einem positiven Ergebnis geführt hat. In Europa leben Menschen unterschiedlicher christlicher Konfession und unterschiedlicher Religion einigermaßen friedlich zusammen. Und nun hat ein Teil der Europäer die Sorge, dass islamische Bürger diesen Frieden der Religion stören könnten. Dass sie sich darum sorgen, um des Friedens willen, dafür bitte ich sehr um Verständnis.

Viele Menschen in der arabisch-islamischen Welt zeigen kaum Interesse am Dialog mit den Westen. Wie kann man sie trotzdem einbinden?

Indem man ihnen die Möglichkeit verschafft, Menschen aus einem anderen Kulturkreis selbst kennen zu lernen. Das setzt die Öffnung des eigenen Landes voraus. Denn natürlich entfalte ich nur Interesse für andere, wenn ich die Chance habe, sie kennen zu lernen, oder wenn ich durch kennen lernen herausgefordert werde, mehr über sie wissen zu wollen. Wenn ich das nur vom Hörensagen kenne, möglicherweise von oberflächlichen oder einseitigen Fernsehberichten, wird das Interesse nicht sehr stimuliert. Dass wir in Deutschland allmählich ein größeres Interesse für den Islam entwickeln, hat damit zu tun, dass in Deutschland mehrere Millionen Bürger islamischen Glaubens leben. Ich habe in der Nachbarschaft Menschen, die anders glauben als ich und das erzeugt doch Neugier, ganz normale freundliche menschliche Neugier. Wieso sind die anders? Worin besteht ihr Anderssein? Sind sie ganz anders oder sind sie zugleich wiederum ähnlich wie ich? Das hat damit zutun, dass ich persönlich Berührung habe. Wenn Menschen in Ägypten oder im Irak, in Syrien oder Algerien Gelegenheit haben, mit Europäern in Kontakt zu treten, wird das vielleicht auch ihre Neugier erregen, um zu fragen, warum sind sie anders, und wie kann ich mich mit ihnen verständigen?

Reicht es aus, wenn es Kontakte auf offizieller Ebene gibt?

Dialog sollte nie nur auf der offiziellen Ebene stattfinden. Es wäre schön, wenn Europäer die Chance hätten, in arabische Länder zu reisen, damit es zivilgesellschaftliche Kontakte gibt. Wichtig ist, dass es die nicht nur in Europa gibt, sondern auch in den arabischen Ländern. Wichtig ist, dass die arabische Welt sich viel mehr als bisher öffnet und ihre eigene Angst überwindet, indem sie sich öffnet. Das ist Vorraussetzung für eine Öffnung: weniger Angst. Aber in dem Moment, in dem ich mich öffne und Kontakt pflege, wird die Angst geringer. Ich sehe jedoch nicht, dass das massenhaft geschieht. Es gibt eine Menge arabischer Länder, die sich ausdrücklich nicht öffnen. Die den Kontakt nach außen eher abwehren, und das ist kein wirkliches Zukunftsprojekt.

Lesen Sie bitte das Interview weiter auf Seite 2.

Hauptzielgruppe von DW-WORLD/Arabisch sind junge Menschen. In vielen arabischen Ländern haben sie keine Ausbildung oder Beschäftigung, und es besteht die Gefahr, dass sie Anhänger extremistischer Ideen werden. Wie kann Deutschland helfen?

Es sind immer wieder dieselben Themen: den wirtschaftlichen Austausch pflegen, im Interesse einer guten wirtschaftlichen Entwicklung. Aber auch Beiträge zur Demokratisierung in diesen Ländern leisten, durch politische und zivilgesellschaftliche Kontakte. Vor allem dort, wo es nicht wirklich soziale Gerechtigkeit und das notwendige Maß an demokratischer Mitbestimmung gibt, gerade für junge Leute. Das ist immer auch eine Herausforderung an die arabischen Regierungen ihrerseits, nun selber Demokratisierungs- und Öffnungsprozesse zu erlauben. Die sind auch im eigenen wirtschaftlichen Interesse, denn eine geschlossene Gesellschaft wird am Schluss wirtschaftlich nie erfolgreich sein.

Sollte man nicht konkreter bestimmte Projekte fördern?

Es gibt bereits eine Reihe von Projekten. Arabisch-islamische Länder sind an der Entwicklungszusammenarbeit beteiligt. Sie werden finanziell von Deutschland und Europa in ganz konkreten Projekten unterstützt. Auch im Bereich der beruflichen Bildung zum Beispiel gibt es einige. Ich bin auch sehr dafür, dass man den Jugendaustausch verstärkt. Aber das ist auch wieder eine Frage der Öffnung durch die arabischen Länder. Es kann ja nicht sein, dass sich Europa immer nur öffnet und die arabischen Länder sich nicht ihrerseits öffnen. Wenn schon Gleichberechtigung, dann gilt das auch für beide Seiten. Ab 2006 werden auch Stipendiaten aus arabischen Ländern ein Praktikum beim Deutschen Bundestag absolvieren können.

In Deutschland findet eine lebhafte Diskussion über Integration der im Land lebenden Ausländer, insbesondere der Araber und Moslems, statt. Von multikultureller Gesellschaft und Leitkultur ist die Rede. Wo stehen Sie in dieser Diskussion?

Türken in Deutschland Männer auf der Straße
In Berlin-Kreuzberg zu Hause: Türkische Männer auf der StraßeBild: AP

Ich stehe zwischen den Schlagwörtern. Weder ist Leitkultur ein angemessener Ausdruck, noch sollten wir von einer multikulturellen Gesellschaft reden. Sondern wir brauchen viel mehr Anstrengungen zu interkulturellem Verstehen - das ist der präzisere Ausdruck. Das heißt erstens, die Deutschen müssen endlich die Konsequenz daraus ziehen, dass sie vor 40 Jahren begonnen haben, nicht nur Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen, sondern dass es Menschen waren, die nach Deutschland gekommen sind. Und dass sie diesen Menschen viel mehr Angebote zur Integration und zur Anerkennung unterbreiten müssen. Die zu uns Gekommenen müssen ihrerseits viel mehr als bisher bereit sein, sich auf diese Gesellschaft einzulassen und Ja zu ihr zu sagen. Sie müssen Ja dazu sagen, dass sie hier sind und dass sie, ihre Kinder und Kindeskinder hier dauerhaft leben werden. Weder dürfen wir sie zu Gastarbeitern machen, noch dürfen sie sich selber als solche definieren. Das war bislang das Grundübel. Man hat sich in den vergangenen 40 Jahren belogen. Was am Anfang noch menschlich verständlich war, ist schon seit Jahrzehnten ein großer Irrtum. Und wenn wir den überwinden, dann wird man von beiden Seiten, von der so genannten Mehrheitsgesellschaft wie von der so genannten Minderheitsgesellschaft stärker bereit sein, sich wechselseitig aufeinander einzulassen. Das ist notwendig. Das reicht vom Erlernen der Sprache über das Einlassen auf die elementaren Regeln unseres Grundgesetzes bis hin zur wechselseitigen Wahrnehmung von kulturellen Unterschieden. Nicht als etwas Bedrohliches, sondern als etwas Hochinteressantes, Bereicherndes.

CDU-Chefin Angela Merkel hält die multikulturelle Gesellschaft für gescheitert. Sehen Sie das auch so?

Das sind immer so große Worte. Gerade die CDU sollte wissen, dass sie über 40 Jahre diese Lebenslüge der deutschen Gesellschaft gepflegt hat, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, sondern dass die zu uns Gekommenen nicht Menschen sind, sondern bloß Gastarbeiter, die ja wieder gehen. Das Kapitel ist hoffentlich zu Ende. Ob Deutschland und Europa einmal eine multikulturelle Gesellschaft werden muss, das weiß ich noch nicht. Noch gibt es Unterschiede zwischen der so genannten Mehrheitsgesellschaft und der so genannten Minderheitsgesellschaft. Die Gewichte sind ungleich verteilt. In einer multikulturellen Gesellschaft würden Gewichte gewissermaßen gleich verteilt sein. In dem Zustand sind wir noch nicht. Ich stelle das nur nüchtern fest, ohne es zu bewerten.