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"Marx ist heute bei der jungen Generation ein Unbekannter"

Das Gespräch führte Fengbo Wang8. Juni 2005

Im Interview mit DW-WORLD erklärt der Politikwissenschaftler und Marx-Kenner Thomas Meyer die Bedeutung des Wirkens von Karl Marx für die heutige Zeit. Gibt es einen Mythos Marx? Gilt seine Theorie als überholt?

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"Kapitalismus abschaffen" - Weiß der junge Mann, wer das als erstes gefordert hat?Bild: dpa

DW-WORLD: Wer war der "wahre" Karl Marx als historische Figur?

Wie alle großen Denker und Führer war Marx sehr vielseitig und teilweise auch vieldeutig. Er war gleichzeitig Demokrat und Kritiker der Demokratie, Kritiker und Bewunderer der epochalen Leistungen neuer Dimensionen der Produktivkraftentfaltung des Kapitalismus. Er war Kritiker des Kults um Personen und doch auch selbst dafür anfällig. Er liebte den Geist strenger Wissenschaftlichkeit und Realitätsorientierung und hat doch eine Botschaft von fast geschichtsreligiöser Qualität in die Welt gebracht. Es gibt also, je nach der Lesart, mehr als nur einen "wahren Karl Marx". Diese Ambivalenz selbst ist eine wichtige Wahrheit über den historischen Marx.

Was ist sein größter Beitrag? Sind seine Theorien heute noch "in"?

Marx' bleibender Beitrag ist zum einen das Aufzeigen der großen Rolle der politischen Ökonomie für alle anderen gesellschaftlichen Bereiche und seine Kritik der Krisen und menschlichen Folgen des seiner eigenen Dynamik überlassenen Kapitalismus. Er hat auch gezeigt, dass nur durch die politische, soziale und kulturelle Einbettung die Wirtschaftsordnung der Gesellschaft mit grundlegenden Menschheitsinteressen verträglich gemacht werden kann. Er hat aber nicht dargelegt, wie eine solche Einbettung gestaltet werden muss. Marx hat häufig in der Kritik extreme Positionen bezogen, ohne überzeugend zu klären, welche Alternativen praktisch möglich sind und wie sie organisiert werden können. Als Elemente der Kritik des Kapitalismus gehen von Marx immer noch interessante Impulse aus, auch für die modernen Sozialwissenschaften. Als Gesamterklärung der modernen Welt gilt seine Theorie zu Recht als überholt.

Was von Marx gilt konkret als überholt?

Vor allem die Art seines utopischen Denkens, das alles für möglich hielt, ohne zu zeigen, wie die erwünschten Verhältnisse in einer komplexen Welt organisiert werden und funktionieren könnten. Es hat sich gezeigt, dass sich komplexe Volkswirtschaften nicht ohne Märkte und eine tragende Rolle für Produktionsmitteleigentum wirksam gestalten lassen. Marx’ Vertrauen, dass die Bewegungsgesetze der Geschichte letztlich wie von selbst auf die Verwirklichung der bestmöglichen Gesellschaft, ohne Ungleichheit, ohne Ausbeutung und ohne Herrschaft von Menschen über Menschen, hinarbeiten, hat sich als eine säkularisierte Form religiöser Heilserwartung zu erkennen gegeben. Sie findet in unserer Zeit weder in der Wissenschaft noch in der politischen Welt ernst zu nehmende Anhänger.

Welche Impulse nimmt zum Beispiel Müntefering auf, um den Kapitalismus zu kritisieren?

Müntefering folgt dem Impuls, dass die Wirtschaftsordnung der Gesellschaft kein Selbstzweck sein kann, sondern sich an dem Maßstab messen lassen muss, ob sie menschlichen und gesellschaftlichen Interessen ausreichend dient und sich nicht der Kontrolle durch demokratische Entscheidungen entzieht. Seine Kritik war aber eher gegen das Verhalten kapitalistischer Unternehmer und der Manager von Anlagefonds gerichtet und nicht gegen das System des marktwirtschaftlichen Kapitalismus als solches. Er geht davon aus, dass es verschiedene Spielarten des Kapitalismus gibt und nicht nur die amerikanische mit ihrer Herrschaft des shareholder value. Ihr gegenüber trat Müntefering in seinen zahlreichen Interviews der letzten Wochen für die Rückbesinnung auf die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft ein, wie sie seit ihrer Gründung für die Bundesrepublik kennzeichnend war. Münteferings Kritik nimmt zwar einige Impulse der Marxschen Kapitalismuskritik auf, sie unterscheidet sich aber in Ansatz und Radikalität sowie der erstrebten sozialen Marktwirtschaft in einer sozialen Demokratie deutlich von der Marxschen Vorstellungswelt.

Gibt es einen Mythos Marx, der missverstanden oder missbraucht wird?

Der Mythos Marx wird heute meistens im negativen Sinne missbraucht. Marx als Verführer und als Verursacher aller Übel der Kapitalismuskritik und der Suche nach Alternativen. Im Wesentlichen ist der Mythos Marx aber in der westlichen Welt entzaubert. Während ihm die Generation der 1968er- Jugend noch gläubig und voll Begeisterung nachhing, ist er heute bei der jungen Generation ein Unbekannter.

Ist Marx heutzutage in Deutschland geachtet oder gefürchtet?

Marx ist sozusagen neutralisiert, weil er kein Magnet der Jugend und der Benachteiligten mehr ist. Er ist im größten Teilen der Wissenschaft als ein brillanter Wissenschaftler geachtet und gleichzeitig relativiert und historisiert. Er wird von den Wortführern des neo-liberalen Kapitalismus nicht mehr gefürchtet, eben weil er nicht mehr die benachteiligten und kritischen Massen mobilisiert.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie Karl Marx in der aktuellen Welt der Wissenschaft und der Politik bewertet wird!

Hat das weltweite Scheitern des Kommunismus Marx als ernsthaften Sozialwissenschaftler diskreditiert?

In der seriösen Sozialwissenschaft war alles, was im Marxschen Denken für das kommunistische Projekt verwendet werden konnte, schon vorher gründlich diskreditiert. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat Marx vor allem in den Oppositionsbewegungen des Westens und Befreiungsbewegungen der Dritten Welt als ernst zu nehmende politische Alternative diskreditiert. Nun ist allen klar geworden: Was immer von Marx auf wissenschaftlicher Ebene von Interesse bleiben mag, eine ernst zu nehmende und funktionsfähige alternative Gesellschaftsordnung ist aus seinem Denken nicht zu gewinnen.

Was sind die jüngsten Ergebnisse der Marx-Forschung, gerade wird ja die 100-bändige Marx-Engels-Gesamtausgabe neu editiert?

Zu den jüngeren Ergebnissen der Marxforschung gehören unter anderem die großen Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten vieler Teile seiner politischen Theorie; der Nachweis, dass dem historischen Materialismus eine sehr strikte Moraltheorie zugrunde liegt, die Erkenntnis, dass sich die Marxsche Theorie als Rezeptbuch oder Rechtfertigungstheorie politischer Herrschaft nicht gut eignet, weil sie gar keine explizite Staatstheorie und auch keinen Entwurf einer alternativen politischen Ökonomie enthält.

Hat Marx noch Bedeutung für politische Parteien? Wenn ja, welche?

In den sozialdemokratischen Parteien des Westens gilt der demokratische Marxismus als eine der Quellen ihres Denkens, neben einer Reihe anderer Quellen, bei einigen dieser Parteien gilt dies bis in die Gegenwart. Das bezieht sich auf die Impulse der Kapitalismuskritik und einige der Maßstäbe für eine emanzipierte Gesellschaft, die nicht unter der Herrschaft der Wirtschaftsordnung und ihrer Funktionsgesetze steht. Das gilt, zwar in einer anderen Nuancierung, ebenfalls für die PDS in der Bundesrepublik.

Als komplett marxistisch versteht sich keine der relevanten Parteien in den westlichen Demokratien mehr, allenfalls winzige Splittergruppen am äußersten linken Rand des politischen Spektrums.

Professor Thomas Meyer ist Inhaber des Lehrstuhls für Lehrstuhl Politikwissenschaft an der Universität Dortmund und stellvertretender Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD. Er ist Verfasser des Buches " Die Strukturambivalenz der Marx' schen Emanzipationstheorie".