Mehr Fragen als Antworten im Fall Deniz Yücel
16. Februar 2018"Einzelfälle wie der von Deniz Yücel sind nicht in der Lage, unsere Beziehungen zu stören oder gänzlich zu zerstören", sagte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim der Deutschen Presse-Agentur (dpa). "Die Wahlen sind vorüber, das Referendum ist vorbei, und diese Schwierigkeiten liegen nun hinter uns."
Für den türkischen Regierungschef ist der Fall nur eine kleine Woge inmitten der Wellen, die das Verfassungsreferendum in der Türkei im April und die Bundestagswahl in Deutschland schlugen. Lediglich ein Störfall, bedingt durch Wahlkämpfe - so will Yildirim die einjährige Haft des deutschen Journalisten ohne Anklage und dessen Freilassung ohne Begründung darstellen.
"Es bleibt Bitterkeit"
Für Yücel, der am Freitag seine Zelle im Hochsicherheitsgefängnis verlassen und nach Deutschland ausreisen durfte, hat die überraschende Wendung einen schalen Beigeschmack: "Ich weiß immer noch nicht, warum ich vor einem Jahr verhaftet wurde, genauer: warum ich vor einem Jahr als Geisel genommen wurde - und ich weiß auch nicht, warum ich heute freigelassen wurde", sagte Yücel in einer Videobotschaft im Kurznachrichtendienst Twitter. "Natürlich freue ich mich, aber es bleibt etwas Bitteres zurück."
Nach der ersten Erleichterung wird klar: Es gibt weitaus mehr Fragen als Antworten in der Causa Yücel. Und diese ist alles andere als ein Einzelfall. Denn noch bevor der 44-Jährige die Haftanstalt Silivri bei Istanbul verlassen hatte, wurde bekannt, dass sechs türkische Journalisten wegen angeblichen "Versuchs zum Umsturz der Verfassungsordnung" zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Mehr als 100 Journalisten sind in der Türkei weiter in Haft - genauso wie Zehntausende Oppositionelle. Auch fünf Deutsche sitzen dort weiterhin aus politischen Gründen hinter Gittern.
"Ankara hat nichts dafür bekommen"
Der geschäftsführende deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, der sich bei mehreren Geheimtreffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan für Yücels Freilassung eingesetzt hatte, wies Unterstellungen zurück, es seien stillschweigende Vereinbarungen getroffen worden: "Es gibt keinen Deal, weder einen schmutzigen noch einen sauberen", sagte Gabriel im ARD-Fernsehen. "Die Türkei hat dafür nichts verlangt und hätte auch nichts bekommen können."
Yücel hatte im Januar gegenüber dpa betont, seine Freiheit wolle er "weder mit Panzergeschäften von Rheinmetall oder dem Treiben irgendwelcher anderer Waffenbrüder befleckt wissen" noch mit der Auslieferung türkischer Staatsbürger, die in Deutschland vor einer Verhaftung Schutz gesucht haben. Der Journalist spielte damit auf Wünsche Ankaras an, deutsche Leopard-2-Kampfpanzer aufzurüsten, die die türkische Armee gerade gegen die Kurdenmiliz YPG in Syrien einsetzt. Ein entsprechender Vertrag könnte nach Informationen des Fernsehmagazins "Report München" inzwischen unterzeichnet worden sein.
"Wiegt das Unrecht nicht auf"
Auch im politischen Berlin ist der Enthusiasmus nach Yücels Ankunft am Flughafen Tegel gedämpft. Die Freilassung bedeute keineswegs, dass nun alle Probleme in den deutsch-türkischen Beziehungen ausgeräumt seien, sagte Unionsfraktionschef Volker Kauder der Zeitung "Rheinische Post". Und: Sie "wiegt nicht das Unrecht auf, das Herrn Yücel widerfahren ist", so der CDU-Politiker.
Kauder erinnerte an "andere Inhaftierte, die ebenfalls unter rechtsstaatlich fragwürdigen Bedingungen in den Gefängnissen sitzen". Sorge bereite außerdem die Lage der Menschenrechte und insbesondere die Religionsfreiheit in der Türkei. Bis zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Berlin und Ankara sei es noch ein weiter Weg.
"Keinerlei politische Einmischung"
Justizminister Heiko Maas sagte der dpa: "Alle in der Türkei zu Unrecht Inhaftierten haben Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren." Echte Rechtsstaatlichkeit gebe es nur, wenn die Justiz unabhängig sei, erklärte der SPD-Politiker.
Die türkische Seite hatte am Freitag betont, Yücels Freilassung sei "vollständig nach rechtsstaatlichen Prinzipien" erfolgt, es habe "keinerlei politische Einmischung gegeben". Um diesen Eindruck zu stützen, lag am selben Tag auch plötzlich die von Deutschland lange vergeblich geforderte Anklageschrift der Istanbuler Staatsanwaltschaft vor - die aber mit sehr heißer Nadel gestrickt zu sein scheint. Mehr als ein Jahr benötigte die Behörde angeblich dafür, um am Ende ganze drei Seiten zu produzieren.
Die Vorwürfe: "Propaganda für eine Terrororganisation" und "Aufstachelung des Volkes zu Hass und Feindseligkeit". Beweismittel: Mehrere Zeitungsartikel des "Welt"-Korrespondenten. Dafür fordert die Anklage bis zu 18 Jahre Gefängnis. Im Ergebnis heißt das: Auch wenn Yücel frei bleibt - in der Türkei, wo er mit Herzblut tätig war, wird er seinen Beruf wohl nicht wieder ausüben können.
jj/HF (dpa, afp, rtr)