Mein Europa: Folgen den "Groß-Serbien"-Drohungen bald Taten?
14. Juni 2024Am 11. Juni 2024 geschah, worauf der ultranationalistische bosnische Serbenführer Milorad Dodik jahrelang gewartet hatte: Im Namen Moskaus eröffnete der russische Botschafter in Bosnien und Herzegowina, Igor Kalabuchow, eine Zweigstelle seiner Botschaft in Dodiks Hochburg Banja Luka. Während der Zeremonie meldete sich via Videoschalte auch Russlands Außenminister Sergej Lawrow. Kalabuchow hatte Bosnien im bosnischen Fernsehen bereits zweimal mit einem "Ukraine-Szenario" gedroht, sollte sich Sarajevo weiter der NATO annähern, darunter einmal kurz nach der russischen Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022.
Banja Luka ist der Verwaltungssitz des serbisch dominierten Teils von Bosnien und Herzegowina, der Republika Srpska (RS), deren Führung unter dem Präsidenten Milorad Dodik plant, die RS vom bosnischen Gesamtstaat abzuspalten und der Republik Serbien anzuschließen. Dies würde den "großserbischen Traum" verwirklichen, nämlich das Gros der Serben des ehemaligen Jugoslawiens unter einem staatlichen Dach zu vereinen. Dieses politische Ziel hatte der ehemalige Präsident Serbiens, Slobodan Milosevic, in den 1990er Jahren mit militärischen Mitteln versucht umzusetzen - er war der Hauptinitiator von vier Kriegen, in denen fast 150.000 Menschen starben und über vier Millionen zu Flüchtlingen wurden. Erst als die NATO 1995 in Bosnien und 1999 in Kosovo mittels heftiger Luftangriffe gegen die serbischen Aggressoren intervenierte, gaben sich diese geschlagen.
Doch knapp 30 Jahre später hat die serbische Regierung unter Präsident Aleksandar Vucic, beflügelt durch Moskaus aggressive Politik, das totgeglaubte "Gespenst Großserbien" reanimiert, und zwar unter dem Begriff "Serbische Welt" (Srpski svet), angelehnt an Wladimir Putins "Russische Welt" (Russki mir). Eine ganze Reihe ehemaliger Gefolgsleute Milosevics sind schon lange wieder in Amt und Würden, unter ihnen Innenminister Ivica Dacic, der die Deutschen immer mal wieder als "Völkermörder" tituliert.
Gemeinsamer serbischer Feiertag
Vucic selbst war einst Informationsminister und Führungsmitglied in der Serbischen Radikalen Partei des verurteilten Kriegsverbrechers Vojislav Seselj, dessen Paramilitärs unzählige Kriegsverbrechen in Kroatien und Bosnien verübten. Im Juli 1995 - in den Tagen des Völkermords von Srebrenica - forderte er im Belgrader Parlament, dass für jeden getöteten Serben in Bosnien 100 bosnische Muslime getötet werden sollten. Entschuldigt hat sich Serbiens Staatschef dafür bis heute nicht.
Interessant hingegen ist, dass heute einflussreiche russische Telegram-Kanäle wie "Rybar", der prorussische Kriegspropaganda verbreitet und dessen Autor Michail Swintschuk unter EU-Sanktionen steht, im Frühjahr 2024 "Medienschulen" in Serbien und der RS eröffnet haben.
Am 8. Juni hatten Vucic und Dodik in Belgrad eine gemeinsame Sitzung der Regierungen Serbiens und der Republika Srpska unter dem Motto "Ein Volk, eine Versammlung: Serbien und Srpska" - mit Srpska ist die RS gemeint - abgehalten. Zu dieser "allserbischen Versammlung" war Dodik direkt aus Moskau gekommen, wo er von Präsident Wladimir Putin und Außenminister Sergej Lawrow regelmäßig herzlich empfangen wird. In einer Grußbotschaft sagte Lawrow: "Zusammen mit anderen freiheitsliebenden Völkern werden wir eine neue Weltordnung bauen." Vucic hatte zuvor gesagt, das serbische Volk sei geeint und nur durch den Fluss Drina getrennt. Die Versammlung beschloss, zukünftig gemeinsam den serbischen Nationalfeiertag, den 15. Februar, in Serbien und der RS zu begehen.
Stabilitätsgarant?
Im Westen scheint zumindest die deutsche Bundesregierung den Ernst der Lage erkannt zu haben, denn ein Sprecher des Auswärtigen Amtes kommentierte die Belgrader Veranstaltung als "gelinde gesagt, sehr besorgniserregend und schädlich für Bosnien und Herzegowina, für Serbien und für alle Länder des westlichen Balkans".
Solch klare Worte sind indessen im Westen nicht selbstverständlich, denn viele Politiker in der EU und sogar einige in der US-Regierung sehen in Vucic einen "Stabilitätsgaranten", genauso, wie der Westen bis 1999 Vucics damaligen Chef Milosevic als "Stabilitätsanker" auf dem Westbalkan betrachtet hatte. Schwer verständlich ist angesichts dessen die Tatsache, dass der internationale Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Christian Schmidt, dessen Aufgabe der Schutz Bosniens und die Verteidigung des Friedensvertrages von Dayton ist, sich zumeist zurückhält.
Inaktivität des Hohen Repräsentanten
Beispielsweise hat das bosnische Verfassungsgericht den 9. Januar, den Gründungstag der Republika Srpska im Jahr 1992, zum gesetzeswidrigen - da sezessionistischen - Feiertag erklärt und paramilitärische Paraden an diesem Tag verboten. Dennoch finden sie statt - und werden von Schmidt und seiner Organisation, dem Büro des Hohen Repräsentanten (OHR), kaum noch wahrgenommen. Und das, obwohl die bosnisch-serbische Führung an diesem Tag so tut, als sei die RS bereits ein eigener Staat, ähnlich wie die ukrainischen Oblaste Luhansk und Donezk vor deren illegalen und international nicht anerkannten Anschluss an die Russische Föderation im September 2023. Schmidt hütet sich auch, Vucic oder seine Regierung zu kritisieren, ohne die Dodik kaum so viel Macht hätte.
Diese Inaktivität Schmidts kommt der serbisch-nationalistischen Seite sehr zupass. So thematisierte wohl auch Vucic bei einem kürzlichen Treffen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron die von ihm und Dodik herbeigesehnte Schließung des OHR. Denn trotz der Schwäche Schmidts ist sein Amt die "letzte Verteidigungslinie" des Staates Bosnien und Herzegowina.
Blumen an Stalins Grab
Es ist unklar, ob sich der Westen und Schmidt des drohenden Konfliktes in Bosnien bewusster werden - und falls ja, ob sie dann auch endlich handeln. Ebenso ungewiss ist, ob die USA tatsächlich, wie angekündigt, Bosnien als Staat verteidigen würden, vor allem, falls der künftige US-Präsident Donald Trump heißt. Fest steht: Wenn Belgrad und Banja Luka ihre Vereinigung - mit Moskaus Segen - verkünden, wird es wohl zu spät sein.
Was für Stabilitätsgaranten die serbischen Machthaber in den Staaten Südosteuropas sind, ist manchmal an kleinen, aber deshalb nicht weniger aussagekräftigen Beispielen abzulesen. Etwa an einer Geste des serbischen Vize-Premiers Aleksandar Vulin am 11. Juni 2024 in Moskau. Der Mann war schon unter Milosevic einflussreicher Staatsfunktionär und in den vergangenen Jahren unter anderem serbischer Geheimdienstchef und Verteidigungsminister. Am 11. Juni verbeugte Vulin sich am Kreml vor der dortigen Büste des Massenmörders Josef Stalin und legte Blumen an seinem Grab nieder.
Alexander Rhotert forscht seit 1991 zum ehemaligen Jugoslawien und arbeitete in verschiedenen Positionen u.a. für die UN, die NATO, die OSZE sowie den Hohen Repräsentanten (OHR) in Bosnien und Herzegowina.