Mein Europa: Was ist das, Europa?
9. Dezember 2016Ich weiß nicht, wann das angefangen hat: Plötzlich soll man sich im Alltag vorwiegend mit Anfeindungen gegen die liberale Demokratie und Gesellschaft beschäftigen. Ist das die Zukunft, die wir unseren Kindern wünschen? Ist das die Welt, in der wir sie aufwachsen lassen wollen? Kampf gegen Minderheiten als Demokratiemodus der Gegenwart?
In Deutschland wird erneut die Abschaffung des Doppelpasses diskutiert. Eine so alte Platte - wenn ich darauf antworte, fühle ich mich, als hätte ich einen Sprung. Ich habe 1999 meinen ersten je publizierten Text zu diesem Thema geschrieben. Es war Roland Koch, der meinte, mit einer Unterschriftensammlung gegen den Doppelpass gewinnt er Stimmen. Alles beim Alten. Fast. Dieser neue Rückschritt wird nicht von den alten, weißen Männern gemacht, sondern von der Jungen Union - der sich Angela Merkel als reife Frau nun entgegenstellt.
Doppelpass - ein Thema von gestern
Vor 20 Jahren hat die CDU mit dem Doppelpass Wahlkampf gemacht. Merkel weiß, dieses Thema ist von gestern und wirft die Integrationsdebatte genau dorthin zurück. Inzwischen gibt es für EU-Bürger die Möglichkeiten des doppelten Passes, das heißt: Sehr viele wären von so einem Gesetz gar nicht betroffen, aber doch von einem Wahlkampf gegen ihre Lebensrealität zu verärgert, um der CDU noch ihre Stimme zu geben - jeder Deutsch-Ire zum Beispiel. Dabei hätte die CDU mit Merkel dieses Mal die Chance, auch hier Stimmen zu sammeln - Stimmen, die früher wie selbstverständlich bei der SPD zu Hause waren. Schön, dass die Junge Union den Jusos wieder zu einem Thema verhilft. Eingebürgerte und junge Menschen mit Doppelpass sind nämlich auch Wähler im Herbst 2017.
Warum muss die Verankerung in zwei Staaten regelmäßig durch den nationalen Dreck gezogen werden? Ist das ein Hobby für all jene, die außerhalb Deutschlands nur Tourismus dürfen? Otto von Habsburg, Sohn des letzten Kaisers von Österreich, besaß die deutsche, österreichische, kroatische und ungarische Staatsbürgerschaft, las ich erst jetzt. Er starb mit 98 Jahren friedlich am Starnberger See. Ich vermute, die vierfache Staatsbürgerschaft hat ihm nicht geschadet. Um ihn geht es der Jungen Union nicht. Es geht bei diesem Vorstoß natürlich vor allem um die jungen Menschen, deren Eltern nicht aus der EU kommen. Wo stehen wir noch einmal in Sachen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei? Richtig. Es soll jetzt jeder hier Geborene bitte klare Kante gezeigt bekommen von der deutschen Politik, damit er zum Trost dann von Erdogan ganz fest in den Arm genommen werden kann. Wenn dann der Hiergeborene wieder als Ausländer hier lebt, kann er auch wieder nicht wählen. Bald zwanzig Millionen der in Deutschland lebenden Menschen sind übrigens nicht wahlberechtigt im nächsten Herbst - die meisten davon sind Minderjährige und die ewigen Ausländer, die Nie-Eingebürgerten, die ersten Einwanderer.
Internet als Tor in enthemmte, kleine Köpfe
Damit also befassen sich deutschen Parteien in Zeiten, in denen die Armut im eigenen Land steigt, der Wohlstand zunehmend ungerechter verteilt wird und Bilder von Aleppo um die Welt gehen. Bilder, die jeden unpolitischen Menschen politisieren müssten. Zugegeben, in deutschen Nachrichten gehen sie eher selten über den Bildschirm. Hier hat man sich auf ein gemütliches Fernsehprogramm eingestellt, dass keinen aus dem Wohnzimmersessel wirft. Man muss dafür schon internationale Sender einschalten, Al-Jazeera und CNN. Tore zur Welt.
Was wurde uns das Internet nicht als das große freie Tor zur Welt gepriesen zu Beginn! Und was ist es geworden? Das Tor in enthemmte, kleine Köpfe. In ungehobelte Sprache und unzähmbare Wut. Seit wir Nachrichten aus dem Internet beziehen und meinen, dort ein zweites Leben zu haben, ist die Realität einfältiger geworden. Man muss jetzt in die kleinsten Köpfe schauen und sich auf die niedrigsten Diskussionsstufen begeben, sonst ist man elitär. Früher gab es Knigge, heute gibt es Klicks. Die Jugend läuft durch die Welt wie in einem Glaskasten - an den Bahnhöfen schauen alle in ihre Displays und fühlen sich vom Gegenüber nicht mehr betroffen. Auch politisches Engagement geht für viele heute nur noch per Maustaste, Daumen hoch und Online-Petition. Da lob ich mir doch die alte Lichterkette. Die kommt aber heutzutage leider nicht einmal für Aleppo zustande.
Churchill sprach von den Vereinigten Staaten von Europa
Europa ist der Kontinent, dessen Städte nach 1945 aussahen wie heute die Straßen von Aleppo. Die Menschen in Europa begannen bei Null. Es gab keine Hoffnung mehr auf Kunst und Philosophie - nicht einmal die geringste Hoffnung gab es in den Menschen an sich und dass durch irgendeine Form der Bildung auch nur irgendetwas Menschliches aus ihnen werden könne. Der Mensch lernt, um mit dem Gelernten schließlich zu vernichten, das war die Bilanz der Bildung des Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Adorno stand da und rief das Ende aus, Hannah Arendt stand da und sah keine Menschenrechte, obwohl doch allerorts von Menschenrechten gesprochen wurde.
Winston Churchill, ein Politiker, nicht ein Dichter, hielt am 19. September 1946 in Zürich eine Rede, in der er ein vereinigtes Europa als einzigen Weg sah, für diesen Kontinent wieder Zukunft zu schaffen. Es müssten Länder vorangehen, die bekannten großen Länder, sagte er. Er sprach von den Vereinigten Staaten von Europa. Eines dieser Länder, die vorangehen sollten, ist inzwischen aus dem Vereinigten Europa ausgetreten. Der Süden Europas kämpft. Und wir im Norden reden über den Doppelpass von ein paar hunderttausend Jugendlichen als großes Wahlkampfthema. Aber dem Wähler scheint der Pass dieser wenigen jungen Menschen wichtiger zu sein als die Einheit eines Kontinents. Obwohl, es ist nicht einmal der Wähler, es sind die Politiker, die ihre Wähler unterschätzen, weil sie die Hasstiraden im Internet plötzlich für die Stimme ihres Volkes halten.
Es gibt wieder Hoffnung in Europa
Vergangene Woche ging ein kleines Land voran: Es zeigte, dass ein Gespräch mit den Bürgern noch geführt werden kann. Es gibt seither wieder Hoffnung in Europa. Österreich hat deutlich gemacht, dass mit Trumpschen Wahlstrategien in Europa nicht automatisch Wahlen gewonnen werden können. Wir sollten uns den Alltag nicht weiter verschmutzen lassen. Nicht ständig nur auf das reagieren, was uns die Sozialen Medien zum täglichen Fraß vorwerfen. Trump folgt der Strategie "One tweet per day keeps the media my way". Es ist Zeit für die Politiker, die Intellektuellen, die Europäer und "Citoyens", wieder selbst voranzugehen, Themen zu setzen, Menschen zu erreichen. Es geht nicht nur darum, Populisten und deren Reden zu entlarven, sondern auch selbst Ziele für die ideale Welt zu entwickeln, die man ihnen entgegenhalten kann. Sie ist noch lange nicht fertig, diese ideale Welt. Wir sind wohl doch erst am Anfang.
Jagoda Marinic ist eine deutsch-kroatische Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin, sie wurde als Tochter kroatischer Einwanderer in Waiblingen geboren. Zurzeit lebt sie in Heidelberg. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Made in Germany - Was ist deutsch in Deutschland?". Darin setzt sie sich mit der Identität Deutschlands als Einwanderungsland auseinander.