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"Endlich schlafen"

Andrea Grunau8. Mai 2015

Sein Vater überlebte im Ersten Weltkrieg die Schlacht von Verdun, er selbst wurde mit 18 Jahren Soldat. Im Frühjahr 1945 kam er für zwei Jahre in Kriegsgefangenschaft. Er sagt, er hatte viel Glück.

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Eine Hand hält das Foto eines deutschen Soldaten fest (Foto: Andrea Grunau/DW)
Bild: DW/A. Grunau

"In Desloch war für mich der Krieg vorbei", so schildert Werner Schleef sein Kriegsende im März 1945 im Südwesten Deutschlands. Der junge Soldat war in einem Bauernhof einquartiert, als er Straßenlärm hörte: Es waren US-Soldaten. Er sah, dass aus anderen Häusern schon deutsche Soldaten kamen: "Wir haben uns draußen versammelt." Was ihn verblüffte: "Da hat sich kein Mensch um uns gekümmert." Wenn Amerikaner vorbeikamen, "dann machten wir so" - der heute 89-Jährige hebt die Hände.

Soldat mit erhobenen Händen in einem Fenster ergibt sich US-Soldat mit Gewehr (Foto: picture-alliance/dpa)
Ein deutscher Soldat ergibt sich einem US-AmerikanerBild: picture-alliance/dpa

Es ist eine seltsam unwirkliche Begegnung mit dem "Feind" bei schönstem Frühlingswetter, von der Werner Schleef berichtet. Er lief immer weiter, fühlte sich gar nicht bewacht oder gar festgenommen. Nach zwölf Kilometern strömten alle auf einem Friedhof mit einer Mauer zusammen. Am Tor hatten die Amerikaner Körbe aufgestellt, "wo wir Messer reingeworfen haben". Werner Schleef erinnert sich 70 Jahre später: "Die deutsche Bevölkerung brachte uns Essen. In der ersten Nacht dachte ich: Jetzt kannst du endlich schlafen."

Seit sieben Monaten war Schleef auf dem Rückzug aus Frankreich gewesen, zuletzt immer nachts. Schockiert hat ihn die deutsche Niederlage nicht: "Ich wusste früh, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen war." Nüchtern berichtet er, dass er nach Kriegsende zwei Jahre als Kriegsgefangener in einem französischen Kohlebergwerk arbeiten musste.

Porträt Werner Schleef (Foto: privat)
Werner Schleef: Das Wichtigste war, dass der Krieg für mich vorbei warBild: Privat

Kriegsbeginn: "Wie wirst du das überleben?"

Schon der Direktor seines Bremer Gymnasiums hatte vor dem Kriegseinsatz gewarnt: "Meldet euch nicht freiwillig, da kommt ihr früh genug hin." Sein Geschichtslehrer blieb bei Andeutungen: "Wenn ich euch meine Meinung sage, komme ich ins KZ." Es war nicht wie im Ersten Weltkrieg, sagt Werner Schleef: "Die jungen Menschen von 1914 sind zum großen Teil freiwillig und begeistert in den Krieg gezogen. Das sind wir nicht."

Wie grauenhaft Kriege sind, wusste er von seinem Vater, denn der hatte im Ersten Weltkrieg die Schlacht von Verdun überlebt. Entsprechend war ihm selbst zumute, als er kurz nach seinem 18. Geburtstag im Herbst 1943 eingezogen wurde: "Als ich Soldat geworden bin, habe ich nur gedacht: Wie wirst Du das wohl überleben?" Er hatte viel Glück, sagt er.

Frankreich statt Russland - Funktrupp statt Front

Nach seiner Infanterie-Ausbildung auf einer Insel im besetzten Dänemark war ein Einsatz in Russland geplant. Doch dann suchte man Funker. Werner Schleef wurde ausgebildet und kam nach Frankreich. "Die Front als solche habe ich gar nicht erlebt. Ich habe keinen Schuss abgeben brauchen", betont er. Er war mit einem kleinen Funktrupp hinter der Front.

Bildergalerie 70 Jahre Kriegsende
Deutsche Soldaten marschieren 1940 durch BordeauxBild: picture-alliance/Photo12

Weihnachten 1943 hörte er die Kirchenglocken von Vichy, dann ging es Richtung Westen. Sein Bericht klingt mehr nach Urlaub als nach Krieg: Bordeaux, Biarritz, Muscheln essen in der Bucht von Arcachon, heiße Quellen in Dax. Am 20. Juli 1944 kamen über Funk Berichte über das Attentat auf Hitler: "Ich habe nur einen Soldaten gehört, der gesagt hat: So eine Schweinerei." Alle anderen seien still gewesen. Man konnte sich nicht anders äußern, sagt Werner Schleef, sonst wäre man "unter Umständen von den eigenen Leuten umgebracht worden".

Ende August 1944 begann der Rückzug. Das war so, "dass die französische Bevölkerung an den Straßenrändern stand und uns beim Abziehen zusah. Es ging völlig friedlich zu." Gab es denn nie Gewalt oder Gefahr? In der Nähe der Loire sei sein Funktrupp von Jagdfliegern angegriffen worden, sagt Schleef. Sie hätten genug Zeit gehabt, vom Fahrzeug wegzulaufen: "Dann ist der Wagen weg gewesen." Als er seine Einheit wiederfand, bekam er eine neue Funkausrüstung und einen VW Käfer. Über Feldwege ging der Rückzug Richtung Deutschland weiter.

Deutsche Kriegsgefangene mit erhobenen Händen auf amerikanischen LKW (Foto: picture-alliance/dpa)
Deutsche Kriegsgefangene unter US-BewachungBild: picture-alliance/dpa

Nach dem Kriegsende: Zurück nach Frankreich

Nach der Sammlung auf dem Friedhof im März 1945 transportierten die US-Amerikaner die deutschen Gefangenen nach Frankreich. Dort schliefen sie in Flugplatzhallen auf Strohsäcken. Als diese Strohsäcke wegen des Ungeziefers verbrannt wurden, gab es heftige Explosionen: "Zwei Deutsche sind umgekommen, weil da Handgranaten drin waren." Die Gefangenen waren kaum durchsucht worden. Werner Schleef weiß, dass es ihm weit besser ging als den Wehrmachtssoldaten im Osten, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft kamen. Er hatte auch mehr Glück als viele Soldaten im Westen, die später gefangen genommen wurden. In den großen Rheinwiesenlagern starben mehrere tausend Männer an den Folgen von Hunger und Krankheiten.

Die Amerikaner übergaben die Gefangenen den Franzosen, der 19-Jährige wurde für die Arbeit im Kohlebergwerk ausgesucht. Glück gehabt: Andere mussten Minen räumen. Es gab genug zu essen, erinnert er sich. Es hieß: "Die französische Zivilbevölkerung hat nicht so viel wie die Gefangenen, die im Kohlebergbau arbeiten." Aufgefallen sei ihm, wie freundlich die gleichaltrigen französischen Bewacher sie behandelten, sagt Werner Schleef. Feindseligkeit erlebte er in Frankreich nur von der Großeltern-Generation, die den Ersten Weltkrieg erlebt hatte.

Unter den Kriegsgefangenen im Lager war ein evangelischer Pfarrer. Man sang Kirchenlieder und unterstützte sich gegenseitig. Knapp 40 Jahre nach dem Krieg trafen sich die Mitglieder dieser alten "Lagerkirche" wieder. Noch jahrelang kam man zusammen, bis die meisten zu alt wurden. In den ersten Jahren nach dem Krieg, erinnert sich Werner Schleef, hatte er das Gefühl, er könne überhaupt nur mit denen reden, die wie er selbst im Krieg waren. Zu denen, die das "nur als Kind" erlebt hatten, hatte er keinen Draht.

Eine Gruppe Männer und Frauen steht auf einem Hof (Foto: privat)
Wiedersehen nach Jahrzehnten - die Schleefs (hintere Reihe, rot markiert) beim Treffen der LagerkircheBild: Privat

War das Kriegsende für ihn Niederlage oder Befreiung? "Das war auch Niederlage. Ich würde sagen, Befreiung war es für diejenigen, die im KZ waren", sagt Werner Schleef. "Ich bin ja keinem besonderen Druck ausgesetzt gewesen." Seine Frau Helga schaltet sich ein: "Ich habe das ganz deutlich als Befreiung empfunden."

Sie war acht Jahre, als US-Soldaten im pfälzischen Neustadt an der Weinstraße einzogen. Auch ihre Familie wurde nicht verfolgt, aber sie litt unter "dauernden Ängsten durch die Fliegerangriffe". Als die Amerikaner da waren, seien alle zum ersten Mal wieder im Schlafanzug ins Bett gegangen, nicht mehr angezogen für die nächtliche Flucht in die Weinbergkeller.

Zurück in Deutschland: Die Folgen des Nazi-Terrors

1947 wurde Werner Schleef aus der Kriegsgefangenschaft entlassen: Im zerstörten Ulm "sah ich zum ersten Mal, dass Deutschland den Krieg verloren hatte." Auf einem Güterzug mit Kohlen für Dänemark kam er am Pfingstsonntag zuhause im norddeutschen Rotenburg an. Die Kriegsfolgen waren hier auf dem Land nicht so groß.

Doch der NS-Terror hatte hier wie überall Menschen zerstört, zum Beispiel durch das sogenannte Euthanasie-Programm, die systematische Ermordung von Menschen mit Behinderung. Werner Schleef kannte solche Menschen, denn sein Vater arbeitete mit Behinderten auf einem Bauernhof der Rotenburger Anstalten. Auf dem Hof selbst sei nicht viel geschehen, meint Schleef, doch insgesamt zählten die evangelischen Anstalten Rotenburg 547 Menschen, die in der NS-Zeit abgeholt und ermordet wurden.

Helga und Werner Schleef im Gespräch (Foto: Privat)
Kriegskind und Soldat - Helga und Werner Schleef haben ganz unterschiedliche Erinnerungen an den KriegBild: Privat

Das ganze Ausmaß der NS-Verbrechen erschloss sich Werner Schleef erst nach und nach, sagt er. Seine Frau und er haben viel darüber gelesen. Er erinnert sich an einen Besuch im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Dort habe er erkannt, was andere Menschen erlitten hatten, die so alt waren wie er und ermordet wurden. In einem deutschen Kriegsgefangenenlager sah er die Massengräber sowjetischer Gefangener.

"Wir haben meinen Vater bei einer Familienfeier gefragt, ob er gerne noch mal 18 wäre", erzählt die Tochter von Werner Schleef. Er sagte "nein", das sei keine gute Zeit gewesen. Heute hat der vielfache Großvater mit Blick auf die Erfahrungen seines Vaters im Ersten und seine eigenen im Zweiten Weltkrieg vor allem einen Wunsch für seine Kinder und Enkel: "dass sie keinen Krieg erleben müssen".