Im Strandkorb an der Ostsee
24. Juli 2017Vielleicht liegt's ja daran, dass ich an einem See aufgewachsen bin. Oder an den Sommerferien, die ich als Teenager am Strand von Florida verbrachte. Ein Sommer ist für mich nur dann ein echter Sommer, wenn ich mich in der Nähe von Wasser befinde. Damit meine ich keinesfalls einen riesigen von Schiffen befahrenen Fluss mit gefährlichen Strömungen, wie etwa den Rhein. Sondern eher ein Gewässer, in das ich mich jederzeit hineinstürzen kann, sobald das Thermometer nach oben schießt.
So fand ich meinen ersten Sommer in Deutschland echt klasse, denn den verbrachte ich in Lübeck an der Ostsee. Es gibt zwar keine Strände direkt in der Stadt, dafür aber ganz in der Nähe. Am allerersten heißen Sommertag packte ich meine Badesachen und Sonnencreme zusammen und tuckerte eine Viertelstunde mit Freunden in einem Regionalzug in den Urlaubsort Travemünde. Dort riss ich meine Augen weit auf. Denn was ich dort erblickte, hatte ich noch nie zuvor gesehen: einen Strandkorb! Soll heißen: tausende von Strandkörben! Diese typisch deutsche Art der Strandbesiedlung war mir vollkommen neu. Auf Englisch gibt's dafür noch nicht mal ein Wort!
Als ich nun zum ersten Mal durch den weichen Sand von Travemünde ans Wasser stapfte, wunderte ich mich noch, wie man sich in einem solchen Monster freiwillig niederlassen kann. In Florida, wo der Sand so knallheiß wird, dass man sich die Fußsohlen verbrennt, wenn man barfuß darauf läuft, breiten die Leute einfach ihre Handtücher darauf aus oder sie schleppen Klappstühle und kleine Sonnenschirme an. Im Vergleich dazu erschienen mir die Strandkörbe zunächst mal zu schwer, zu wuchtig und total unpraktisch. Diese riesigen Dinger - Holzgestelle mit Korbgeflecht - verstellten einem außerdem die wunderbare Sicht aufs Meer und den Horizont, wo das tiefe klare Blau der Ostsee auf das blasse, milchige Blau des Himmels traf - sowas finde ich im Rahmen meiner Studie über Farbkontraste immer faszinierend.
Vom Strandkorb-Skeptiker zum Strandkorb-Fan
So wie ich das gewohnt war, breitete ich also mein Handtuch auf dem Sand aus und ließ meine Tasche daneben fallen. Dann schlüpfte ich schnell aus meinen Klamotten und rannte im Badeanzug gen Meer. Endlich eine Abkühlung, freute ich mich! Sofort stürzte ich mich in die Brandung - und genauso schnell erschauderte ich. Bei Temperaturen um die 40 Grad hatte ich nicht daran gedacht, zunächst mal die Wassertemperatur zu prüfen - nur lausige 14 Grad!
"Komm weiter rein, es ist so erfrischend", riefen mir meine deutschen Freunde zu, die schon bis zum Hals von Wellen umspült wurden. Als sie ihr eisiges Bad beendet und vom Schwimmen und Herumplanschen bereits blaue Lippen bekommen hatten, stand ich erst bis zu den Knien im Wasser. Ich bin halt ein Warmduscher, wie die Deutschen sagen. Meine sogenannte Abkühlung an heißen Sommertagen in Florida fand schließlich bei Badewannentemperatur statt. Im Vergleich dazu erschien mir die Ostsee eher wie die Arktis. Obwohl die Wellen nur meine Unterschenkel umspülten, klapperten mir die Zähne. Und dann traf mich auch noch der eisige Wind. Trotz der Sonne am Himmel fror ich am Strand.
Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, schlugen meine Freunde mir vor, mich in einem Strandkorb gegen die Kälte zu schützen. Ich war total dagegen. Wozu zwei Euro verschwenden, um diese hässlichen Dinger zu finanzieren? Aber meine Freunde verkrochen sich in einem Strandkorb - und irgendwann tat ich das auch. Erst da begriff ich plötzlich, wie nützlich die sein können.
In einem Strandkorb ist man geschützt gegen Wind - sogar Wind, der stark genug ist, um Surfer aufs offene Meer zu treiben. Auch gegen intensive Sonneneinstrahlung ist man gefeit. Mitgeliefert bekommt man außerdem eine exklusive Sicht auf das endlose Meer bis hin zum Horizont. Ein Strandkorb ist sozusagen ein wettergeschützter Ort mit Aussicht.
Obwohl jener Sommer in Lübeck innerhalb meiner zehn Jahre Aufenthalt in Deutschland nur ein kurzer Abschnitt war, bin ich immer wieder regelmäßig zur Ostsee zurückgekehrt. Die Sicht auf das raue Meer hat einen beruhigenden Effekt auf mich. Immer noch schaffe ich es kaum, mehr als meine Füße in das kalte Wasser zu bekommen, aber geschützt in einem Strandkorb kann ich stundenlang aufs Meer hinaus schauen. Genau das tat ich natürlich auch während meiner letzten Reise zur Ostsee - nämlich nach Usedom.
Viele Stunden verbrachte ich mit einem Buch am Strand von Trassenheide. Und alle paar Seiten legte ich das Buch mal weg, um aufs Meer zu blicken. Ich fragte mich, ob die nahegelegene Insel wohl Rügen sei, und wie weit entfernt Schweden wäre. Ich hing ich so gedankenverloren in meinem Strandkorb herum, dass ich noch nicht mal das heraufziehende Gewitter bemerkte - bis dicke Regentropfen auf das Dach meines Strandkorbs prasselten. Kein Problem! Ich zog die Fußbank ein, das Dach weiter vor und saß das Gewitter einfach aus.