Manchmal muss auch ein Kommentator zugeben, dass er sich geirrt hat. Heute ist so ein Tag. Vier Wochen vor der Bundestagswahl habe ich angesichts der von mir prognostizierten langwierigen Koalitionsverhandlungen geschrieben, die Deutschen könnten eine solche Zeitspanne mit Fassung tragen - das Land funktioniere ganz gut auch ohne richtige Regierung.
Was bei der Regierungsbildung vor vier Jahren noch galt, erwies sich nun mitten in der Pandemie als grundfalsch. Denn obwohl Virologen schon seit dem Frühsommer vor genau diesem Szenario gewarnt hatten, ist Deutschland in der Schlussphase des Bundestagswahlkampfes, erst recht aber in den Wochen seit der Wahl mit voller Wucht in die vierte Welle gerauscht. Doch gekümmert hat das augenscheinlich niemanden.
Lethargie und Selbstbeschäftigung
Die alte Bundesregierung, die seit zwei Monaten ja nur noch geschäftsführend im Amt war, legte keinen besonderen Ehrgeiz mehr an den Tag und blieb lethargisch - wie schon so oft in der vergangenen Legislaturperiode. Die neue Koalition hingegen war vor allem mit sich selbst und dem Ausloten von Gemeinsamkeiten beschäftigt. So kam es zu grandiosen Fehlentscheidungen wie dem Schließen der Impfzentren (als hätte man von den dringend notwendigen Boosterimpfungen nichts geahnt) oder dem öffentlichen Nachdenken über einen "Freedom-Day". Und der Bundestag beschloss das Ende der "pandemischen Notlage" - als wäre inzwischen alles vorbei.
Dabei ist die aktuelle Lage dramatisch - nach den Rekordwerten der Neuinfektionen steigt nun auch die Zahl der Todesfälle wieder heftig an. Dass es so nicht weitergehen kann, hat inzwischen auch die neue Bundesregierung begriffen und legt plötzlich Eile sowie Entschlusskraft an den Tag: Schon am Freitag wird der Bundestag eine Impfpflicht für besondere Berufsgruppen beschließen, eine allgemeine Impfpflicht ab dem kommenden Frühjahr gilt als sicher.
Damit beschreitet die Regierung von Olaf Scholz jedoch einen Weg, der sie - wie auch die Politik überhaupt - sehr viel Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern kosten wird: Hatten doch ausnahmslos alle Parteien und Kanzlerkandidaten im Wahlkampf (und selbst noch danach) versprochen, dass es garantiert keine Impfpflicht geben werde. Aus einer möglichen Radikalisierung der Impfgegner könnte so bald eine ganz besondere Herausforderung für die neue Bundesregierung entstehen.
Muss wieder ein SPD-Kanzler in den Krieg ziehen?
Eine zweite, potenziell sehr unangenehme Herausforderung für die neue Bundesregierung lauert im Osten Europas: Wie reagiert Deutschland, wenn Wladimir Putin tatsächlich Ernst macht und seinen an der Ostgrenze der Ukraine aufmarschierten Truppen den Befehl zum Angriff auf das Nachbarland gibt? Es heißt zwar, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Aber die Situation erinnert schon stark an das Frühjahr 1999, als ausgerechnet ein neuer sozialdemokratischer Bundeskanzler und ein grüner Außenminister deutsche Soldaten in den ersten Kriegseinsatz seit 1945 schickten. Und auch damals im Kosovo-Krieg ging es um den Schutz eines Volkes, dem man gar nicht automatisch durch das Bündnisversprechen der NATO verpflichtet war.
Angesichts dieser drängenden Probleme sind die großen Reformvorhaben der Koalition, die "mehr Fortschritt wagen" will, erst einmal in den Hintergrund getreten. Ohnehin wird sich zeigen, wie stark die Begeisterung der Deutschen für den Kampf gegen den Klimawandel noch ist (nach Umfragen für die Mehrheit der Bevölkerung das drängendste Problem), wenn sie merken, was dieser konkret für ihren Wohlstand und Lebensstandard bedeutet. Weil es nämlich nicht damit getan sein wird, dass lediglich der Staat Entscheidungen trifft, die aber niemand in seinem Alltag und Geldbeutel spürt. Klimaneutralität wird so jedenfalls nicht erreicht.
Wie lange strahlt der Shooting Star?
Dass Olaf Scholz jetzt zum Kanzler gewählt wurde, ist die Überraschung des Jahres - noch vor sechs Monaten hätte kaum jemand (mich eingeschlossen) darauf gewettet. Und die Unionsparteien haben erst recht in den Wochen nach der Wahl mit Nachdruck unterstrichen, dass sie derzeit alles andere als regierungsfähig sind. Dennoch sollte Scholz nicht vergessen: Der Stimmenvorsprung der SPD bei den Bundestagswahlen, der seine Kanzlerschaft begründet, war nur hauchdünn. Der kann auch schnell wieder verloren gehen.
Zwar haben die Deutschen in den vergangenen 50 Jahren jede Koalition und jeden Kanzler mindestens einmal wiedergewählt. Ein gesetzlicher Anspruch leitet sich daraus aber nicht ab. Nein, Scholz und sein Kabinett müssen jetzt liefern. Sonst bleibt die Ampel-Koalition nur eine Episode.