Frank-Walter Steinmeier traut sich was. In einer österlichen Fernsehansprache zu bester Sendezeit geigt der Bundespräsident den politisch Verantwortlichen seine Meinung. Er rügt, er tadelt, er mahnt, er fordert und alle - von der Bundeskanzlerin an abwärts - dürfen sich angesprochen fühlen. Warum das etwas Besonderes ist? Weil Steinmeier sich qua Amt eigentlich aus fast allem heraushalten soll.
Die Niederlande und Großbritannien haben einen König und eine Königin, Deutschland hat einen Präsidenten. Die Aufgaben sind durchaus vergleichbar. Auch das deutsche Staatsoberhaupt vertritt und repräsentiert das Land und die Bevölkerung, muss unparteiisch sein, integrierend wirken und sich aus der aktuellen Tagespolitik heraushalten. Man stelle sich vor, Königin Elisabeth II. würde den britischen Premier, seine Minister und andere führende Politiker offen kritisieren. Undenkbar.
Es ist etwas aus dem Lot geraten
Doch der Bundespräsident ist der Meinung, dass er sich angesichts der nicht mehr zu übersehenden politischen Vertrauenskrise in Deutschland nicht länger zurückhalten kann. Recht hat er. "Vertrauen", so sagt Steinmeier, "das beruht in einer Demokratie auf einer sehr fragilen Übereinkunft zwischen den Bürgern und ihrem Staat: Du, Staat, tust Deinen Teil; ich Bürger tue meinen." Doch der Staat ist derzeit weit davon entfernt, seinen Teil zu tun.
Die Politik macht zwar einiges richtig, aber auch sehr viele Fehler. Fehler, die in einem hochtechnisierten, reichen und gut organisierten Land wie Deutschland überraschen. Es hapert beim Impfen, beim Testen, beim Ausschöpfen der digitalen Möglichkeiten, bei der Nachvollziehbarkeit der Maßnahmen und bei der politischen Kommunikation.
Ohnmacht und Wut nehmen zu
In Deutschland baut sich gerade die dritte Corona-Infektionswelle auf und wenn man den Epidemiologen und Virologen glauben darf, wird sie eine bislang nicht gekannte Wucht haben. Eine Aussicht, die jede aufkeimende Hoffnung zerschlägt, die frustriert, die ohnmächtig macht, müde und wütend. Gerade jetzt müsste die Politik Halt geben, müsste einen Weg aus der Krise aufzeigen und Vertrauen schaffen.
Stattdessen streiten sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer seit Wochen wie Kleinkinder im Sandkasten. Die einen verordnen Ausgangssperren, die anderen öffnen Zoos und Restaurant-Terrassen. Die einen schließen die Kindergärten, die anderen wollen Geschäfte selbst dann noch geöffnet lassen, wenn die Inzidenz, also die Zahl der Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner, bei 200 liegen sollte.
"Rauft Euch zusammen!"
Das ist nicht nur in der Sache unerträglich, sondern auch wegen der Beweggründe. Da wird politisch laviert und taktiert, immer mit Blick auf anstehende Landtagswahlen, die Bundestagswahl und den Streit um die Kanzlerkandidatur in der Union. "Das darf jetzt nicht die Hauptrolle spielen!", rügt der Bundespräsident und fordert: "Rauft Euch zusammen!"
Man kann nur hoffen, dass dieser Appell ankommt. Nach Ostern will die Bundeskanzlerin einen neuen Anlauf starten, um die Ministerpräsidenten wieder einzufangen. Zur Not auch, indem sie die Eingriffsmöglichkeiten des Bundes in den Infektionsschutz verschärft. Für einheitliche Vorgaben braucht Angela Merkel den Bundestag mit seinen Parlamentarierinnen und Parlamentariern. Neue Uneinigkeit droht. Doch dafür bleibt keine Zeit. Die dritte Welle rollt. Die Bürgerinnen und Bürger haben das längst erkannt. Im jüngsten ARD-Deutschlandtrend befürworten zwei Drittel der Befragten einen verschärften Lockdown.
Zu viel erscheint sinnlos
Andererseits haben es die Bürger satt, nur zuhause zu sitzen und darauf warten zu müssen, dass sich die Pandemie abflacht. Sie erwarten von der Politik begleitende klare, verständliche, pragmatische und Orientierung gebende Maßnahmen und keine Regelungen, die niemand nachvollziehen kann. Wenn Schüler eng zusammen in einer Klasse sitzen, werden sie nicht einsehen, warum sie in ihrer Freizeit Abstand halten müssen. Wenn sich die Menschen in Supermärkten drängen, das kleine Bekleidungsgeschäft nebenan, in dem viel weniger Kunden einkaufen würden, aber geschlossen bleiben muss, ergibt das keinen Sinn.
Der Bundespräsident drängt auch hier zu Recht auf Veränderungen. Denn er weiß, dass es ohne das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen nicht funktionieren wird. Die Bereitschaft, sich an die eigene Nase zu fassen, das irgendwie Mögliche zu tun, hat nach mehr als einem Jahr in der Pandemie ohnehin stark nachgelassen. Der Frühling ist da, die Sonne scheint, alle wollen raus. Aufatmen, leben, frei sein. Ob sich dieser Drang ein weiteres Mal in die Schranken weisen lässt?
Die nächsten Wochen werden es zeigen. Genauso wie sie zeigen werden, ob das Machtwort des Bundespräsidenten im Land ankommt. Wobei der Präsident keine Macht in Sinne von Durchgreifen hat. Nur die Macht des Wortes. Die aber hat Steinmeier in seiner Rede genutzt. Hoffentlich bewegt er damit etwas.