In Moskau rollten die Raketenwerfer, reckten Generäle ihre Ordensbrüste und Wladimir Putin erklärte den ukrainischen Kriegsschauplatz kurzerhand zu russischem Boden. Die Gegenveranstaltung zu solch offensiver Geschichtsverzerrung und militärischer Aggression fand an diesem Montag in Straßburg statt. Ziviler konnte eine Veranstaltung nicht sein, mit Musik und Tanz, Bürgerbeteiligung und vielen engagierten Reden. Aber was so scheinbar harmlos daher kam, ist das derzeit wichtigste Projekt in Europa.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen machte ganz deutlich, dass Europa sich verändern müsse, wenn es für eine neue gefährliche Zukunft gerüstet sein will. Und solche Veränderungen gehen in der EU nicht ohne Kämpfe ab. Auch decken sie sich nur teilweise mit den Wünschen der Bürger, die nach langen Beratungen im Europaparlament ihre Vorschläge einreichten. Da ging es vor allem um Umwelt, Gesundheitsversorgung oder Bildung - Themen, die den Menschen in der EU am Herzen liegen. Aber ist jetzt die Zeit, sich auf diese "normale" Politik zu konzentrieren?
Mut zu Reformen
Immerhin kam in der Wunschliste vor, die Einstimmigkeit bei außenpolitischen Entscheidungen abzuschaffen. Und das ist eine der größten Baustellen der EU. In Brüssel sitzen zum Beispiel seit voriger Woche Tag für Tag die Botschafter zusammen, um das 6. Sanktionspaket gegen Russland mitsamt dem Ölboykott auf den Weg zu bringen. Dafür brauchen sie Einstimmigkeit. Und weil Ungarn beharrlich Widerstand leistet, können die groß angekündigten Sanktionen bisher nicht verabschiedet werden. Es ist ein trauriges Schauspiel, das die Mitgliedsländer beenden könnten, wenn sie endlich Mut fassen würden.
Für andere Reformen müssten die EU-Verträge geöffnet werden. Das könnte erst recht einen Sprung nach vorn bringen: einen gemeinsamen Haushalt, beschleunigte Entscheidungen, mehr Gemeinsamkeit. Bei Kriegsbeginn haben die Europäer gezeigt, dass sie unter Druck schnell und geeint handeln konnten. Wenn sie daraus die richtigen Lehren ziehen, wären sie für die neue Weltlage besser gewappnet. Denn daran hat in der EU niemand Zweifel: Am 24. Februar 2022 hat eine neue Zeitrechnung begonnen und eine Rückkehr zur Vorkriegsordnung wird es vorerst nicht geben.
Der italienische Premier Mario Draghi sieht einen "pragmatischen Föderalismus" als Zukunftsmodell für Europa und der französische Präsident Emmanuel Macron, immer leidenschaftlicher Reformer, nennt Einigkeit, Autonomie und Unabhängigkeit als wichtigste Ziele. Er will auch die Diskussion über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten wieder eröffnen und eine Struktur schaffen, in der Länder wie die Ukraine oder Georgien als quasi assoziierte Mitglieder an die EU gebunden werden könnten. Es wäre die wohl einzige realistische Möglichkeit, die großen Versprechungen an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu erfüllen. Ein normaler Aufnahmeprozess in die EU nämlich dauert Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, so erinnerte Emmanuel Macron.
Die Furcht, das längst Erreichte zu gefährden
Macron übrigens will sich für Änderungen im EU-Vertrag stark machen, obwohl andere Länder bereits gewarnt haben, der Prozess sei zu mühsam und das Ergebnis ungewiss. Die alte Furcht ist, dass einmal geöffnet, die Verträge nie wieder erneut auf dem bestehenden Integrationsniveau beschlossen werden könnten, weil zu viele Einzelinteressen eine Neuunterzeichnung verhindern würden.
Allerdings ist auch ohne Vertragsänderungen politisch eine ganze Menge möglich, der Handlungsspielraum der Regierungschefs ist längst nicht ausgeschöpft. Und angesichts der Tapferkeit, ja des Heldenmutes in der Ukraine, die europäische Politiker so unermüdlich loben, sollte die EU nicht sich von Ängstlichkeit und den schlechten Erfahrungen der Vergangenheit lähmen lassen. Es wäre die Verschwendung einer Krise, die seit langem die beste Chance für echte Reformen bietet.
Europa müsse zu einem der großen Reiche werden, die die globale Zukunft bestimmen würden, wie China oder die Vereinigten Staaten, so war in Straßburg zu hören. Davon ist die EU weit entfernt, aber die Reise muss in diese Richtung gehen. Europa darf nicht mehr abhängig sein von anderen, weder bei der Energie, noch bei der Chipherstellung oder der Verteidigung. Und der französische Präsident nannte auch die Lebensmittelversorgung - ein Thema, über das erst seit Kriegsbeginn wieder nachgedacht werden muss.
Die Kraft liegt in der Gemeinsamkeit
Diese Ideen und Pläne für mehr Gemeinsamkeit, Handlungsfähigkeit und Unabhängigkeit eines stärker vereinten Europa treffen auf die schwelende Europaskepsis in einigen Mitgliedsländern, zu denen durchaus auch Frankreich gehört. Andererseits hat die russische Aggression Zweifler etwa in der polnischen Regierung vom Nutzen der EU überzeugt. Und viele Herausforderungen, zum Beispiel in der Energiepolitik können nur europäisch beantwortet werden.
Wladimir Putin wollte den 9. Mai nutzen, seinen Sieg und die Schwäche Europas zu feiern. Das ist ihm misslungen. Welch bessere Antwort auf den russischen Kriegsherrn könnte es also geben, als an diesem Tag die politische Stärke der EU zu beweisen. In der neuen historischen Situation, die Moskau uns aufgezwungen hat, kann nur in der Gemeinsamkeit die Kraft liegen. Und Europa braucht diese Kraft in den nächsten Monaten und Jahren zu seinem Überleben.