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PolitikEuropa

Faktencheck: Warum Putins Atomwaffenbehauptung falsch ist

Michel Penke | Roman Goncharenko | Tatjana Schweizer | Joscha Weber
9. Mai 2022

Eine nukleare Bedrohung durch die Ukraine? Eine ukrainische Invasion der Krim? Ukrainische Neonazis? Die Rede von Russlands Präsident Wladimir Putin am 9. Mai enthielt neue und bekannte Vorwürfe. Die meisten sind falsch.

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Russland | Militärparade am 9. Mai in Moskau
Putin hielt eine international viel beachtete Rede in Moskau - und richtete neue Vorwürfe in Richtung WestenBild: Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images

Anlässlich der Militärparade zum 77. Jahrestag des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland in Moskau erhob Russlands Präsident Wladimir Putin schwere Vorwürfe gegen die Ukraine und den Westen. Der DW-Faktencheck prüft die wichtigsten Schlüsselaussagen von Putins Rede.

Ukrainische Atomwaffen?

Behauptung: "In Kiew kündigte man einen möglichen Erwerb von Atomwaffen an. Der NATO-Block hat mit der aktiven militärischen Entwicklung der an uns angrenzenden Gebiete begonnen", sagte Putin in seiner Rede.

DW-Faktencheck: Falsch. 

Präsident Wladimir Putin bezieht sich mit dieser Aussage offenbar auf eineRede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2022. Darin erwähnt Selenskyj das Budapester Memorandum von 1994, in dem sich Russland, die USA und Großbritannien gegenüber der Ukraine, Belarus und Kasachstan verpflichten, die Unverletzbarkeit ihrer Grenzen zu achten. Als Gegenleistung gab Ukraine ihre von der Sowjetunion geerbten Nuklearwaffen an Russland zurück beziehungsweise zerstörte diese selbst.

Nach der russischen Annexion der Krim 2014 deutete Selenskyi auf der Sicherheitskonferenz in München an, die Ukraine könne sich aus dem Abkommen zurückzuziehen. Ein solcher Rückzug wäre rechtlich jedoch relativ folgenlos. Denn das Budapester Memorandum verbietet der Ukraine nicht ausdrücklich, erneut Atomwaffen anzustreben.

Einzig der Atomwaffensperrvertrag, den die Ukraine 1994 im Anschluss an das Memorandum unterzeichnete, untersagt eine Proliferation radioaktiven, waffenfähigen Materials. Selbst bei einer Aufkündigung des Memorandums wäre die Ukraine also weiter an das Verbot gebunden.

Ungarn | Clinton and Jelzin | Unterzeichnung Atomwaffensperrvertrag
Russlands Präsident Boris Jelzin (links) und US-Präsident Bill Clinton (rechts) unterzeichneten am 5. Dezember 1994 in Budapest den AtomwaffensperrvertragBild: David Brauchli/AP Photo/picture alliance

Belege für einen rechtsbrüchigen Versuch oder lediglich den Plan Kiews, Atomwaffen zu beschaffen, gibt es aber keine. Präsident Putins vorgenommene Deutung, der ukrainische Präsident Selenskyj habe mit seiner Rede das Abkommen auf- und die Beschaffung von Atomwaffen angekündigt, ist demnach also falsch.

Sein Verweis auf neue militärische Infrastruktur der NATO nahe der russischen Grenze ist zudem irreführend. Zwar hat das Militärbündnis seine Präsenz in Osteuropa verstärkt, hält dabei aber die von Russland akzeptierten Bedingungen der NATO-Russland-Grundakte von 1997 ein. 

Keine Belege für "Invasion" der Krim durch Ukraine

Behauptung: Russland führe eine präventive militärische Operation gegen die Ukraine, so der russische Präsident Wladimir Putin. Die Ukraine hätte sich offen auf einen neuen "Strafeinsatz im Donbass" und eine "Invasion" russischer "historischer Territorien, inklusive der Krim" vorbereitet. Die NATO-Länder hätten die Ukraine mit modernsten Waffen beliefert.

DW Faktencheck: Falsch. 

Die ukrainische Führung hat mehrmals betont, eine diplomatische und keine militärische Lösung des Konflikts im Donbass anzustreben, unter anderem durch Präsident Selenskyj kurz vor Kriegsausbruch auf der Münchener Sicherheitskonferenz. Als Russland im Herbst 2021 seine Truppen entlang der ukrainischen Grenze zusammenzog, gab es keine Anzeichen für eine bevorstehende ukrainische Offensive. Das gilt umso mehr für die annektierte Krim. Russland hat die Halbinsel seit 2014 zu einer faktischen militärischen Festung ausgebaut und mit modernsten Waffen ausgestattet. Darunter sind neue Kriegsschiffe mit Marschflugkörpern, Flugabwehrsysteme S-400 oder modernste Kampfjets vom Typ Sukhoi Su-35S. Die ukrainischen Streitkräfte verfügen nicht über solche Waffen und sind den russischen Truppen auf der Krim stark unterlegen.

Auch vor diesem Hintergrund bemühte sich Kiew um eine diplomatische Lösung. 2021 fand der erste Gipfel der so genannten "Krim-Plattform" statt, einer diplomatischen Initiative Kiews mit dem Ziel, das Schicksal der annektierten Halbinsel und den von der UN kritisierten Menschenrechtsverletzungen, etwa der Verfolgung der Krimtataren, international stärker in den Fokus zu rücken. Einige NATO-Mitglieder haben zwar der Ukraine moderne Waffen wie Anti-Panzer-Raketen geliefert, allerdings zögerlich und zunächst eingeschränkt. Erst unmittelbar vor dem russischen Einmarsch Ende Februar 2022 wurden die Waffenlieferungen intensiviert. Schwere Waffen wie Schützenpanzer und Haubitzen wurden erst nach dem Kriegsausbruch geschickt. 


Auch Putins historische Vergleiche zur Verteidigung Russlands sind erneut falsch. Gleich zu Beginn seiner Rede stellte er den Einsatz der russischen Armee im Donbass in eine Reihe mit drei Ereignissen aus der Vergangenheit: dem russischen Volksaufstand gegen die polnische Intervention Anfang des 17. Jahnhunderts, eine Schlacht bei Moskau während des Russlandfeldzugs Napoleons und dem Krieg gegen Nazi-Deutschland. In allen drei Fällen wurde Russland beziehungsweise die Sowjetunion von außen angegriffen. Die Ukraine hingegen hat Russland nicht angegriffen, sondern im Gegenteil, Russland startete am 24. Februar 2022 einen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Dass es sich bei den erwähnten Gebieten um "historische Territorien" Russlands handle, ist ebenfalls nicht richtig: Völkerrechtlich gehören sowohl die Krim als auch die Gebiete im Donbass zur Ukraine. Eine UN-Resolution von 2020 hielt fest, dass die Generalversammlung die Annexion der Krim verurteile und dass diese nicht anerkannt wird. 

Neonazi-Vorwürfe Richtung Ukraine

Behauptung: Putin erhob erneut den Vorwurf, dass "Neonazis" die Ukraine lenken würden, mit denen ein Zusammenstoß "unvermeidlich" sein würde. Im weiteren Verlauf der Rede sprach er von Zivilisten im Donbass, die "durch rücksichtslosen Beschuss und barbarische Angriffe von Neonazis starben."

DW Faktencheck: Falsch.

Die Gleichsetzung der Ukraine mit "Neonazis" ist eine immer wieder von Putin, seiner Regierung sowie den russischen Staatsmedien wiederholte Behauptung, die falsch ist. Schon zu Kriegsbeginn sprach Putin von der angeblich notwendigen "Entnazifizierung" der Ukraine, ein Begriff, der die Politik der alliierten Siegermächte für Nazi-Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg beschreibt (mehr dazu hier).

Doch der Vergleich zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland bis 1945 und der demokratisch verfassten Ukraine der Gegenwart ist offensichtlich unangebracht. Weder besteht in der Ukraine ein totalitäres System, noch sind rechtsextreme Kräfte an der Macht. Bei den letzten Parlamentswahlen 2019 kam eine Einheitsfront rechtsextremer Parteien auf gerade einmal 2,15 Prozent der Stimmen (Wahlergebnis auf Ukrainisch). Für Melanie Mierzejewski-Voznyak, Forscherin am Institute of International Relations in Prag, ist die radikale Rechte in der post-sowjetischen Ukraine "an der politischen Peripherie" geblieben. Russland-Experte Ulrich Schmid nannte das russische Narrativ deshalb im DW-Gespräch "eine perfide Unterstellung". Es gebe Neonazis in der Ukraine, "aber in Russland selbst gibt es mindestens ebenso viele rechtsextreme Gruppierungen wie in der Ukraine", so der Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Schweizer Universität St. Gallen, der zum Nationalismus in Osteuropa forscht. 

Bilderchronik des Krieges in der Ukraine | Stahlwerk in Mariupol
Luftaufnahme des zerstörten Asow-Stahlwerks in der UkraineBild: Pavel Klimov/REUTERS

Und diese Position ist breiter wissenschaftlicher Konsens: In einem Statement bezeichneten mehr als 300 Historiker und Wissenschaftler die angeblich notwendige "Entnazifizierung" der Ukraine als "Propaganda". Die Unterzeichner des im "Jewish Journal" veröffentlichten Briefes schlussfolgern: "Diese Rhetorik ist faktisch falsch, moralisch widerwärtig und tief beleidigend für die Millionen Opfer des Nationalsozialismus."

Zwar haben rechte, nationalistische Gruppen an den Euromaidan-Protesten 2014 teilgenommen und im berüchtigten Asow-Regiment, das im Osten des Landes gegen die russischen Invasoren kämpft, gab und gibt es radikal-nationalistische Mitglieder. Doch unter dem Strich gibt es in der Ukraine keine dominierenden Rechtsextremen und kein größeres Neonaziproblem als in anderen europäischen Ländern. Putins Argumentation ist demnach falsch. 

Russland fordert, NATO bietet Gespräche an

Behauptung: "Im Dezember vergangenen Jahres haben wir vorgeschlagen, ein Abkommen über Sicherheitsgarantien abzuschließen. Russland rief den Westen zu einem ehrlichen Dialog auf, zur Suche nach vernünftigen Kompromisslösungen, zur Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen. Alles vergebens. Die NATO-Staaten wollten uns nicht hören, was bedeutet, dass sie eigentlich ganz andere Pläne hatten."

DW Faktencheck: Irreführend.

Präsident Wladimir Putin bezieht sich damit auf einen Forderungskatalog, den Russland am 17. Dezember 2021, im Vorfeld des Krieges in der Ukraine, an die NATO übergab. Darin enthalten waren acht Forderungen, auf die sich die NATO-Staaten und Russland verständigen sollten, um einen Konflikt zu vermeiden. Die wichtigsten Punkte waren ein Ende der NATO-Osterweiterung und ein Rückzug von NATO-Truppen auf die Positionen vor 1997.

Das würde einen Abzug von NATO-Militärverbänden aus Polen, Ungarn, Tschechien, Bulgarien, Rumänien, dem Baltikum und mehreren Balkan-Staaten bedeuten. Zudem sollte das westliche Bündnis auf Militäraktivitäten in der Nachbarschaft Russlands verzichten, ausdrücklich erwähnt wird dabei die Ukraine. Ebenfalls sollten landgestützte Kurz- und Mittelstreckenraketen verboten werden, die das Territorium der Vertragsteilnehmer erreichen könnten.

Russland | Militärparade am 9. Mai in Moskau
Aufmarsch der Armee: Militärparade am 9. Mai in Moskau als Signal der StärkeBild: Alexander Nemenov/AFP/Getty Images

Von westlichen Beobachtern wurden einige der Forderungen als unvereinbar mit den Grundsätzen der NATO bewertet. So sei die freie Bündniswahl ein Recht jedes souveränen Staates, festgelegt in Artikel 10 des NATO-Vertrags. Auch Staaten in russischer Nachbarschaft müssten der NATO beitreten dürfen. Dieses Grundprinzip hatte Russland 1975 in der KSZE-Schlussakte von Helsinki, 1994 im Budapester Memorandum und 1997 in der NATO-Russland-Grundakte anerkannt. US- Außenminister Antony Blinken resümierte die Position des westlichen Blocks mit den Worten: "Die Tür der NATO ist offen und bleibt offen."

Ende Januar übergab die NATO ein Antwortschreiben, gefolgt von einer separaten Antwort der US-amerikanischen Führung am 26. Januar. Wenige Tage später wurde das bis dahin geheime NATO-Schreiben von der spanischen Tageszeitung El Pais geleakt.

Neben der grundsätzlichen Ablehnung eines Aufnahmestopps von Mitgliedern stimmte die NATO der Forderung Russlands zu, die Kommunikationskanäle zwischen Moskau und westlichen Hauptstädten zu verbessen. Geschlossene Vertretungen in Brüssel und Moskau könnten ebenfalls wieder eröffnet werden.

Weiterhin solle der NATO-Russland-Rat künftig für den Austausch über Militärmanöver und Atompolitik genutzt werden. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bot Präsident Putin zudem Gespräche über Rüstungskontrolle, Abrüstung und Transparenz bei militärischen Übungen an. Neue Vereinbarungen könnten in das 2011 beschlossene Wiener Dokument aufgenommen werden und zur Entspannung beitragen.

Im Gegenzug verlangte Stoltenberg einen Rückzug russischer Truppen von den Territorien Georgiens, der Ukraine und Moldawiens. Wladimir Putins Darstellung des Dialogs zwischen Russland und der NATO im Vorfeld des Krieges in der Ukraine ist einseitig und irreführend.