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Politik

Der Ruf nach der eisernen Hand

20. November 2020

Umfragen zeigen, dass die Deutschen mehrheitlich eine noch strengere Corona-Politik wünschen. Auch von den Medien wird die Politik zu "klaren Ansagen" ermutigt. Das ist ein Irrweg, meint Nemanja Rujević.

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Deutschland Coronavirus Maskenpflicht München
Bild: Sven Hoppe/dpa/picture-alliance

Deutschland befindet sich in der neuen Lockdown-Spirale. Tag für Tag werden neue, noch schärfere Regeln vorgeschlagen und an eine schnelle Lockerung wagt gar niemand mehr zu denken. Zum Scheitern verdammt ist jeder Versuch, zu ergründen, welche Begrenzung der Freiheit die Politik warum für zielführend hält. Zum Friseur darf man, zur Pediküre aber nicht. Im Klassenzimmer sitzen unsere Kinder mit 30 anderen, in der Freizeit sollen sie sich nur noch mit einem einzigen Freund treffen. Keine Rolle spielen, so scheint es, auch die Kenntnisse des Robert Koch-Instituts darüber, wo das Risiko einer Ansteckung besonders groß ist - denn die erneut geschlossenen Restaurants zählten nicht dazu.

Und dann gibt es noch die Gerichte, die schon eine ganze Reihe von Maßnahmen als "unverhältnismäßig" oder "nicht genug begründet" kassiert haben. So wurden vielerorts Sperrstunden oder die Zwangsschließung von Fitnessstudios wieder aufgehoben - außerdem Beherbergungsverbote oder die Pflicht, eine Maske in der ganzen Stadt zu tragen.

Die vergessene Verhältnismäßigkeit

Die Entscheidungsträger sind wirklich nicht zu beneiden. Es ist ja nicht so, dass die Politik einen geheimen Katalog der notwendigen und effizienten Maßnahmen hätte, über diesen aber bewusst hinausgeht, um das Volk zu unterjochen, wie eine Vielzahl von Wirrköpfen glaubt. Andererseits scheinen die Bundesregierung und so manche Landesregierung mehr von Ängsten der Bevölkerung und hysterischen Schlagzeilen getrieben, als von wissenschaftlich belegten Fakten. Als müssten immer irgendwelche, immer schärfere Maßnahmen her. Und dann wird die Verhältnismäßigkeit oft vergessen.

Nemanja Rujevic
Nemanja Rujević, Redakteur in der Serbischen RedaktionBild: DW

Eine gängige Ausrede lautet: Wir wüssten noch zu wenig über das Virus und sollten lieber zu viel, als zu wenig machen. Aber dieses Argument hat sich seit dem Frühjahr verbraucht. Inzwischen stehen die ersten Impfstoffe kurz vor der Zulassung und das deutsche Gesundheitssystem ist trotz stark gestiegener Infektionszahlen immer noch weit entfernt vom befürchteten Kollaps. Wir wissen längst, wie das Virus sich verbreitet und für welche Risikogruppen es lebensbedrohend ist.

Wir wissen aber auch, wie gefährlich ein Lockdown für die psychische und körperliche Gesundheit der Menschen sein kann und wie sehr er Wirtschaft und soziales Leben ruiniert. Soziologen warnen bereits vor der "Generation Corona" - der heutigen Jugend, die auf Dauer unter Nachteilen leiden werde.

Der Papa ist gefragt

Doch all dieses Wissen scheint unterzugehen in einer kollektiven Psychose. Gibt es einen besseren Beweis als die unvorstellbare Popularität, die der bayerische Ministerpräsident Markus Söder in der Pandemie erreicht hat? Obwohl die Corona-Zahlen in Bayern nicht eben für seine Effektivität sprechen, wird der CSU-Chef durch Umfragen schon fast zum nächsten Bundeskanzler ausgerufen.

"In der Krise wird oft nach dem Vater gefragt", hat Söder bereits Ende März dazu gesagt. Und auf den Papa verlassen sich selbst vermeintlich aufgeklärte Deutsche gerne. Die hohe und stabile Zustimmung für alle Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen zeugen davon.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat in ihrem Feuilleton bereits die "beunruhigende Frage" aufgeworfen, ob offene Gesellschaften weniger geeignet seien, auf globale Bedrohungen zu reagieren als autoritäre Systeme? Leider haben die Kollegen recht - man muss über bis vor kurzem Unvorstellbares reden: Hat die Bedrohung durch das gefährliche Virus und begleitende Panik die Deutschen so hypnotisiert, dass sie sich wirklich eine eiserne Hand wünschen?

Journalisten ermutigen zu Strenge

Selbst viele Journalisten pochen nicht auf parlamentarische Debatten, auf kluge und minimale Einschnitte in das öffentliche Leben, sondern fordern stattdessen "klare Ansagen" und "Mut", die Bürger im Namen des Gemeinwohls einzusperren. Anstatt die Politik zu hinterfragen, wird diese eher zur Strenge gegenüber dem Volk ermutigt.

Die Autorin Jagoda Marinić hat schon vor einigen Wochen in der Süddeutschen Zeitung bemerkt, die "Übervorsichtigkeit des derzeitigen medialen Diskurses"gegenüber Politik sei so groß, dass Gesundheitsminister Jens Spahn von sich aus die übertriebenen Maßnahmen des ersten Lockdowns zugegeben habe, ohne von den Medien danach gefragt worden zu sein. "Ist Kritiklosigkeit jetzt eine Tugend?", fragte Marinić zu Recht.

So droht das Konzept der politischen Verantwortung zu verwässern. In einer Demokratie dürfen die Politiker keine Karenzzeit von ihrer Rechenschaftspflicht bekommen - auch nicht, wenn sie eine schwere, ja vielleicht einmalige Krise zu meistern haben.

Ein wenig China geht nicht

Das gilt selbst dann, wenn es Hinweise gibt, dass eine Mehrheit der Bürger alle Freiheiten aufgeben würde, nur um sich vor Krankheit zu schützen, die zur todbringenden Pest unserer Epoche hochstilisiert wird.

Wer sich nach autoritärer Effektivität à la China in der Pandemiebekämpfung sehnt, muss die chinesischen Verhältnisse auch in Gänze akzeptieren. Dann bräuchten wir auch keine Parlamente und keine unabhängigen Gerichte mehr. Und eine mediale Debatte wäre erst recht überflüssig. Denn wo der Vater nur auf den Tisch haut, müssen die Kinder ohnehin die Klappe halten.