Selten waren sich deutsche Volkswirte, Ökonomen und Regierungsberater so einig: Deutschland steht ein extrem harter Winter bevor. Und das ist nicht meteorologisch gemeint, sondern mit Blick auf die Konjunktur. Die deutsche Wirtschaft wird in die Miesen kommen, das Wachstum wird erlahmen. Aber dafür braucht es nicht einmal ein Studium der Volkswirtschaft, dafür reicht der gesunde Menschenverstand aus.
Zum Beispiel mit Blick auf die Horrorzahl, die am zurückliegenden Dienstag die Runde machte: Die Erzeugerpreise (eine Zahl, die in normalen Zeiten keinen Menschen interessiert, aber die Zeiten sind alles andere als normal) sind im August im Vergleich zum Vorjahresmonat um knapp 46 Prozent gestiegen. Das gab es noch nie, seit dieser Wert ermittelt wird - und das wird er seit immerhin 73 Jahren. Die Erzeugerpreise zeigen an, was ein Unternehmen für die Produkte zu zahlen hat, die es verarbeiten und dann verkaufen möchte. Damit sind sie ein zuverlässiger Indikator für den weiteren Verlauf der Inflation. Heißt in diesem Fall: Die Inflation frisst sich immer tiefer ins das Wirtschaftssystem rein.
Mit Rezession gegen Inflation
Überall auf der Welt stemmen sich die Zentralbanken gegen den drastischen Anstieg der Verbraucherpreise und die damit einhergehende Geldentwertung. Und natürlich bekämpft man Inflation am besten, indem man der Wirtschaft den Dampf abdreht. Auch das kann schon in einer Rezession münden - als Beispiel sei auf die USA vor 40 Jahren verwiesen, wo es dem damaligen, bis heute hoch angesehenen Notenbank-Chef Paul Volcker nur zum Preis eines herben Einbruchs der Wirtschaft gelungen war, eine hartnäckige Stagflation (also eine Inflation plus stagnierende Konjunktur, quasi die hässliche Schwester der Rezession) zu bekämpfen. Es ist absehbar, dass es auch dieses Mal so laufen muss. Denn auf eine solche Stagflation steuern wir zu.
Aber natürlich ist der dramatische Preisanstieg neben den fortdauernden Problemen in den Lieferketten auch den extrem gestiegenen Energiepreisen zu verdanken. Das ist praktisch eine zweite Front, die der Kriegsfürst Putin eröffnet hat. Er hat, was lange keiner glauben wollte, Öl und vor allem Gas als Waffe eingesetzt. Damit will er Europa spalten, damit will er die Gesellschaften spalten. Er hofft auf soziale Unruhen, sprich darauf, dass sich die Europäer gegen ihre Regierungen erheben und ihnen die Schuld geben, mit Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine den Krieg in die Länge zu ziehen und damit die Energiepreise in die Höhe zu treiben.
Bewährungsprobe für Europa
In Berlin, Paris, London und anderswo aber stemmen sich die Regierungen mit Macht gegen genau dieses Szenario. Franzosen und Briten deckeln die Energiepreise, die Deutschen verstaatlichen die Gashändler. Gleichzeitig versuchen die Menschen in Deutschland zu verstehen, was eine Gasumlage ist und ob man eine solche zusätzliche Abgabe zusätzlich zu den horrenden Energiepreisen überhaupt noch bezahlen kann. Natürlich gibt es auch hierzulande milliardenschwere Hilfspakete, die ein bisschen Entlastung bringen - allerdings eher mit der Gießkanne, statt gezielt den wirklich Bedürftigen zu helfen.
Die wirkliche Belastungsprobe steht den Deutschen wie den Europäern aber erst noch bevor. Denn die wirklich fetten Nachzahlungsforderungen für Gas und Strom, die aus den hohen Erzeugerpreisen (siehe oben) resultierenden höheren Preise für alle nur denkbaren Produkte, die Rechnungen, die nicht mehr bezahlt werden können, was wiederum Unternehmen in die Pleite treiben wird, kurz: diese Spirale des Grauens, sie wird erst im kommenden Jahr so richtig beginnen zu rotieren. UN-Generalsekretär António Guterres brachte es in dieser Woche auf den Punkt: "Ein Winter der Unzufriedenheit zieht am Horizont auf."
Da kommt es dann schon auch auf europäische Solidarität an, auf das Zusammenstehen in der Unterstützung für die Ukraine und gegen den Kriegstreiber im Kreml. Kommt Europa einigermaßen unbeschadet durch den kommenden Winter, stehen die Chancen nicht ganz schlecht, dass es danach wieder aufwärts geht. Ganz langsam wahrscheinlich, aber - und das ist die gute Nachricht: ohne Putins Gas.