Was war das für ein bewegender Moment, als Kamala Harris am 20. Januar vor dem Kapitol ihren Amtseid ablegte. Die Hauptattraktion mag die Amtseinführung von Präsident Joe Biden gewesen sein. Aber das war eben nur ein weiterer alter weißer Mann, der den Staffelstab übernahm. Als Kamala Harris die Hand auf die Bibel legte und mit einem stolzen Lächeln schwor, die Verfassung der Vereinigten Staaten zu verteidigen, fühlte sich das wie gelebte Geschichte an. Die erste Frau, die erste Schwarze und die erste asiatisch-amerikanische Person im US-Vizepräsidentenamt - wow!
Knapp zwölf Monate später hat sich Ernüchterung breit gemacht. In einer landesweiten Umfrage der Nachrichtenseite Real Clear Politics sagten nur 40 Prozent der Amerikaner, dass sie mit Harris zufrieden seien. Biden brachte es immerhin auf 42 Prozent. Den jüngsten kleinen Begeisterungssturm löste die Vizepräsidentin aus, als sie Ende November über einen Weihnachtsmarkt in Washington, D.C., schlenderte und Instagram-wirksam in die Smartphone-Kameras winkte. Politisch aber kam von Harris in ihrem ersten Amtsjahr enttäuschend wenig.
Harris ist nicht über ihr Amt hinausgewachsen
Fairerweise muss man zugeben, dass das Amt des Vizepräsidenten, beziehungsweise der Vizepräsidentin, ein denkbar undankbares ist. Nur wenige Menschen dürften der Macht so nahe sein (wenn der commander in chief das Zeitliche segnet, übernimmt automatisch der oder die Vize das Sagen im Weißen Haus) und gleichzeitig so wenig davon haben.
"Ich gehe auf Beerdigungen, ich gehe zu Erdbeben", so fasste Nelson Rockefeller, von 1974 bis 1977 Vizepräsident unter Gerald Ford, seinen Job zusammen. Benjamin Franklin schlug vor, den Trägern des Amtes den Titel "Seine überflüssige Exzellenz" zu verleihen. Der Vizepräsident oder die Vizepräsidentin leitet in den USA kein eigenes Ministerium, und bei wichtigen Entscheidungen hat natürlich immer der Chef das letzte Wort.
Aber von Kamala Harris hatte man sich trotzdem mehr erhofft. Nicht nur, weil sie nach so viele weißen Männern "die Erste" in ihrem Job war. Bevor sie 2019 ins Rennen um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten einstieg, hatte sich Harris als durchgreifende Attorney General, einer Mischung aus Generalstaatsanwältin und Justizministerin, in Kalifornien einen Namen gemacht, wo sie sich unter anderem für strengere Waffengesetze einsetzte. Später im US-Senat war sie eine lautstarke Gegnerin von Präsident Donald Trumps restriktiver Einwanderungspolitik. Großartig, solch eine Frau als Vizepräsidentin zu sehen!
Aber weder mit diesen beiden Themen, noch in irgendeinem anderen Bereich hat es Harris geschafft, ihr Profil zu schärfen. Sicher, sie absolvierte einen Besuch in Mexiko und Guatemala - das Thema Migration sollte in der Biden-Administration schließlich Teil ihres Portfolios sein. Nach ihrem Besuch erklärten die USA, sie würden die Anzahl bestimmter Arbeitsvisa erhöhen.
Doch das, was von der Reise wirklich in Erinnerung blieb, waren Harris' harsche Worte an die Menschen in Guatemala, die sie davon abhalten sollten, der Armut ihrer Heimat Richtung USA zu entfliehen: "Do not come."
Von der Kämpferin, die sich für Schwächere einsetzt, ist in solchen Momenten erschreckend wenig übriggeblieben.
Wofür steht die Vizepräsidentin?
Auch Persönlichkeiten ohne umfassende direkte Macht können die Gesellschaft beeinflussen. Das konnte man zum Beispiel an der ehemaligen First Lady Michelle Obama sehen. Sie machte gesunden Lebensstil und den Kampf gegen die weitverbreitete Fettleibigkeit von Kindern in den USA zu ihrem Thema und starte die "Let's Move"-Initiative. In deren Rahmen entstand eine Taskforce, in der Experten aus einer Vielzahl an Ministerien zusammenarbeiteten. Es folgten Rat- und Vorschläge für Eltern, Schulen, Kinder und Gesundheitsdienstleister.
Eine gesunde Kindheit war DAS Thema, mit dem man Michelle Obama in den USA in Verbindung brachte. Donald Trumps Vizepräsident Mike Pence gilt als glühend religiös und wurde von konservativen Republikanern, die mit Trump so ihre Probleme hatten, zum Beispiel für seine Abneigung gegenüber Homosexuellen gefeiert. So rückständig diese Einstellung sein mag - sowohl seinen Unterstützern als auch seinen Gegnern war klar, wofür Pence stand.
Wofür steht Kamala Harris? Was sind ihre Herzensangelegenheiten? Wie repräsentiert sie die Millionen von Menschen, die bei ihrer historischen Amtseinführung so hohe Erwartungen in sie setzten? All das ist unklar. Die Vizepräsidentin bleibt bisher weitgehend blass, macht nur wenig von sich reden. Für eine Frau, die als einzig mögliche Aufstiegschance noch den Schritt ins Weiße Haus anstreben könnte, ist das ein gravierendes Problem.