Es ist himmelschreiend ungerecht: In Deutschland haben schon jetzt anteilig mehr Menschen ihre Booster-Impfung erhalten als in ärmeren Ländern ihre erste Spritze zur Corona-Immunisierung. 5,6 Prozent geboosterten Deutschen stehen immer noch erst 4,6 Prozent mindestens Erstgeimpften in den 27 ärmsten Ländern der Erde gegenüber.
Abgesehen von ethischen und moralischen Gründen gibt es ein ziemlich einleuchtendes Argument, warum der globale Süden endlich viel mehr Impfstoff bekommen muss: Die Pandemie ist erst vorbei, wenn dem Virus überall auf der Welt die menschlichen Wirte ausgehen. Und vor diesem Gesichtspunkt ist eine Boosterkampagne, während fast die Hälfte der Weltbevölkerung noch ungeimpft ist, ungerecht. Noch brisanter: Die geschäftsführende Bundesregierung hält Impfstoffspenden an das COVAX-Programm zurück, um die eigene Bevölkerung drittimpfen zu können.
Warum man die Booster-Impfung nicht ausschlagen sollte
Deshalb das Privileg einer Auffrischungsimpfung auszuschlagen, wäre jedoch ebenso falsch. Denn eine nicht wahrgenommene Booster-Impfung nützt den Impfstoff-Unterversorgten in anderen Erdteilen auch nichts. Die Logik "jede Kaufentscheidung ist ein Signal", mit der man als Verbraucher zumindest minimalen Einfluss ausüben kann, verfängt hier nicht: Als Impfling kann man schon deshalb gar keine Marktmacht ausnutzen, weil man selbst gar kein Marktteilnehmer ist. Die Ware ist, zumindest im globalen Norden, längst über den Tresen an staatliche Einkäufer gewandert, und die nationalen Regierungen setzen alles daran, den Impfstoff unter der eigenen Bevölkerung zu verteilen.
Falsch ist auch die Annahme, dass nicht genutzte Impfdosen dann einfach gespendet würden. Hier verhält es sich eher so wie bei einer Bierrunde in einer Kneipe: Rührt niemand das spendierte Glas an, wird das Bier eben schal und irgendwann weggeschüttet. Bei einem Impfstoff, der nach dem Auftauen aus der Ultra-Tiefkühlung nur wenige Stunden haltbar ist und der grundsätzlich nur im Sechserpack geliefert wird, gilt das ganz besonders. Auch Spenden größerer Chargen kurz vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums sind problematisch, weil der Impfstoff ja noch zu den Impfwilligen gelangen muss. Haben die Empfängerländer dafür zu wenig Zeit, müssen sie die Impfstoffe letztlich doch wegwerfen.
Und selbst, wenn ein signifikanter Anteil der Deutschen zugunsten einer Impfstoffspende aufs Boostern verzichten würde - wie würden wohl die Regierenden darauf reagieren? Sicherlich nicht die nächste Impfstofflieferung ins Ausland umleiten, sondern eher noch zusätzliches Steuergeld auf Werbekampagnen verwenden, um die Ungeboosterten umzustimmen.
Auch Boostern rettet Leben
Denn es macht ja auch nicht zuletzt einen Unterschied für das Pandemiegeschehen im eigenen Umfeld. In Israel wurde die vierte Welle nach allem was man weiß durchs Boostern gebrochen. Das hat mutmaßlich sehr viele Menschen vor einer Erkrankung oder Schlimmerem bewahrt.
Auf diesen Effekt müssen - bei widrigeren Ausgangsbedingungen - nun Deutschland und andere Staaten auf der Nordhalbkugel hoffen, die trotz vieler Geimpfter aktuell stark steigende Infektionszahlen vermelden. Denn der Schutz vor einer Infektion ist schon wenige Monate nach der Zweitimpfung deutlich geringer, nach einer Drittimpfung dann aber wieder sehr hoch, wie die Daten aus Israel nahelegen.
Der nachlassende Impfschutz der ersten beiden Impfungen reicht zwar selbst bei vielen Impfdurchbrüchen noch aus, eine schwerere Erkrankung zu verhindern. Aber jeder Mensch, dessen Immunsystem nach einer Drittimpfung das Virus von vornherein abwehrt, erweist sich als Sackgasse für die Pandemie. Und jeder, der dank Booster nicht ins Krankenhaus muss, hält Kapazitäten für andere frei. So hilft jede Drittimpfung nicht nur der geimpften Person, sondern könnte auch noch jemand anderem das Leben retten.
Das alles nützt den rund 95 Prozent in den ärmsten Ländern, die immer noch auf ihre Erstimpfung warten, in der Tat wenig. Doch wer angesichts seiner Impf-Privilegien ein schlechtes Gewissen bekommt, sollte eher Geld spenden, Demos und Petitionen organisieren oder seine(n) Wahlkreisabgeordnete(n) kontaktieren - das geht auch nach der dritten Impfung.