Es werden Welten aufeinanderprallen, wenn Olaf Scholz aus dem Regierungsflieger steigt und litauischen Boden betritt: Es scheint, als beiße sich der Bundeskanzler eher auf die Zunge, als dass er öffentlich der Ukraine den Sieg gegen die russischen Invasoren wünscht.
Litauen hingegen zählt zu den kühnsten Unterstützern der Ukraine - erst vor ein paar Tagen machte das 2,8-Millionen-Einwohner-Land Schlagzeilen, als Bürgerinnen und Bürger binnen weniger Tage fünf Millionen Euro sammelten, um eine Bayraktar-Kampfdrohne für die Ukraine zu kaufen.
Waffenlieferungen per Crowdfunding, das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Seit Kriegsbeginn machen in Litauen auch Geschichten die Runde von Privatleuten, die Nachtsichtgeräte oder Schutzausrüstung spendeten.
Litauen hält Ukraine-Flagge hoch
In Vilnius und andernorts in Litauen ist die Solidarität mit der Ukraine überall zu sehen, auch in Gestalt von blau-gelben Fahnen an öffentlichen Gebäuden. Die Regierung selbst legt ebenfalls einen entschlossenen Kurs an den Tag. In Abstimmung mit Estland und Lettland zählt Litauen regelmäßig zu den EU-Mitgliedern, die die am weitestgehenden Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine und das schärfste Vorgehen gegenüber Russland einfordern.
Litauen hat zu Sowjetzeiten ein halbes Jahrhundert unter Moskauer Fremdherrschaft erdulden müssen, inklusive Deportationen nach Sibirien, Willkür-Morden durch den Geheimdienst KGB und einer blutigen Nacht mit Panzern in Vilnius 1991. Das alles muss man zur Vorgeschichte wissen, um zu verstehen, warum das Deutschlandbild in den vergangenen Jahren und Monaten dort schwere Risse bekommen hat.
Begonnen hat alles mit der Gas-Pipeline Nord Stream 2 - die zwischen Deutschland und Russland erst gebaut wurde, nachdem Russland bereits die Krim annektiert und Unfrieden in der Ostukraine gestiftet hatte. Da hatte man in Litauen längst das Monopol von Gazprom auf dem Gasmarkt gebrochen und zahlreiche andere Projekte zur schrittweisen Energie-Unabhängigkeit von Russland auf den Weg gebracht. Die deutsche Erkenntnis, dass Energiepolitik auch Sicherheitspolitik ist, gilt hier als alter Hut.
Warum so zaghaft?
Olaf Scholz hat sich dann in seinem ersten halben Jahr als Bundeskanzler einiges geleistet, was in Litauen und auch anderswo in Mittel- und Osteuropa als große Zaghaftigkeit aufgefasst wurde: Erst wand er sich wochenlang darum, Nord Stream 2 beim Thema Sanktionen gegen Russland Namen zu nennen. Dann stemmte er sich nach Kriegsausbruch lange gegen die Lieferung schwerer Waffen.
Und in Litauen dürfte auch nicht unbemerkt geblieben sein, dass Scholz - selbst Wochen nach dem beigelegten Streit über die Nicht-Reise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Kiew und mehrerer öffentlicher Einladungen - immer noch keine Anstalten macht, persönlich in die Ukraine zu reisen.
Als Bundesaußenministerin Annalena Baerbock im April in Vilnius gastierte, machte ihr Kollege Gabrielius Landsbergis ein Kompliment, das auch als Spitze gegen Scholz und die restliche Bundesregierung gedeutet werden konnte: Bei Baerbock "persönlich" sei er sicher, dass sie alles für die Ukraine tue.
Zeitweise war in Litauen der Frust über die deutsche Zurückhaltung so groß, dass eine Menschenmenge vor der deutschen Botschaft demonstrierte. Und immer noch scheinen einige in Litauen nicht restlos überzeugt, dass Deutschland es wirklich ernst meint mit seiner wirtschaftlichen Abwendung von Russland.
Klartext vom Kanzler
Dabei hat Deutschland in anderen Kontexten einen hervorragenden Ruf. Allen voran zu nennen ist die Bundeswehr, die die NATO-Battlegroup in Litauen seit deren Gründung vor fünf Jahren anführt.
Der Einsatz ist auch der Hauptgrund des Treffens mit dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda: Vor dem NATO-Gipfel Ende des Monats geht es um eine deutliche Aufstockung der Battlegroup und der deutschen Kontingente.
Hierin bietet sich für Olaf Scholz auch gleichzeitig eine einmalige Chance, das persönliche und damit auch insgesamt das deutsche Verhältnis zu Litauen wieder zu verbessern. Neben konkreten militärischen Zusagen dürften viele wohl von ihm erwarten, endlich Klartext zu sprechen.