Es besteht durchaus Anlass unzufrieden zu sein mit dem bisherigen Impftempo in Deutschland. Immerhin ist über die vergangenen zweieinhalb Monate deutlich geworden, dass die große Knappheit der Vakzine nur eine Ursache dafür ist - und die recht bürokratisch anmutende Organisation der Impflogistik die andere. Da klingen die Ankündigungen verlockend, dass schon bald wöchentlich fünf Millionen Dosen alleine von den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten verimpft werden könnten - bisher schafft Deutschland lediglich etwa 1,5 Millionen Impfungen pro Woche.
Ab Mitte April werden daher zusätzlich zu den Impfzentren der Länder auch die Haus- und Facharztpraxen eingebunden. Neu ist auch, dass diese selbst entscheiden können, wen sie als erstes impfen.
Impfen wird nicht das neue Clubhouse
Das ist erst einmal vernünftig, birgt aber auch ein Risiko: Es dürfe sich nicht dahingehend ändern, "dass die geimpft werden, die gute Kontakte zum Hausarzt haben", warnte in dieser Woche der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Wird Impfen das neue Clubhouse? Wer den heißbegehrten Invite erhält, bekommt rasch seine Grundrechte zurück, während die Normalsterblichen noch ein paar Monate länger durchhalten müssen?
Dieses Szenario ist sicherlich übertrieben. Man darf den Ärztinnen und Ärzten den Vertrauensvorschuss einräumen, dass Lauterbachs Befürchtung Einzelfälle bleiben werden und der überwiegende Teil der Impfdosen genau so eingesetzt wird, wie es sinnvoll ist.
Neue Flexibilität
Umgekehrt haben wir viel zu gewinnen, denn die Impfkampagne geht gerade in eine neue Phase über: Die Bewohner von Alten- und Pflegeheimen sowie die Hochbetagten als die gefährdetsten Risikogruppen sind zu großen Teilen geschützt, gleichzeitig steigen die Impfstoff-Liefermengen massiv. Damit erhöht sich der Spielraum, wer als nächstes an der Reihe ist - der herzkranke Rentner, oder besser doch zuerst die etwas geringer vorbelastete Asthmatikerin, die jedoch beruflich vielen Menschen begegnet? Das kann kein Ethikrat und kein Impfzentrum sinnvoll entscheiden - Hausärzte, die ihre Patienten kennen, aber schon.
Zum individuellen Schutz von Leben kann in der neuen Phase eine zweite Überlegung treten, wie die Impfreihenfolge gestaltet werden sollte: Denn manche Impfungen spielen für das gesamte Infektionsgeschehen eine größere Rolle als andere.
Wo es jetzt lohnt, die Priorisierung zu lockern
In Sachsen wird in diesen Tagen die Impfreihenfolge wohlüberlegt verändert. Die Landkreise, die an das von Corona besonders gebeutelte Nachbarland Tschechien grenzen, werden vorübergehend üppiger mit Impfstoff beliefert als die anderen. Die Hoffnung ist, durch eine schnellere Immunisierung einen "Impfriegel" aufzubauen, sodass der Grenzverkehr in beide Richtungen nicht mehr als Corona-Drehtür wirkt.
Anfang der Woche hat bereits der Tiroler Bezirk Schwaz außerplanmäßige 100.000 Einheiten des BioNTech-Impfstoffs erhalten, um die dort grassierende südafrikanische Variante einzuhegen. Mit einer weiteren Zusatzlieferung von vier Millionen BioNTech-Dosen, die binnen zwei Wochen in der EU ankommen sollen, will die EU-Kommission dasselbe Prinzip anwenden: Mitgliedsstaaten sollen grenznahe Cluster gezielt eindämmen, damit Grenzen offen bleiben.
Sämtliche Beispiele bringen mit sich, dass entgegen der ursprünglichen Priorisierung auch junge Menschen ohne Vorerkrankungen geimpft werden, damit örtlich rasch eine Immunitätsschwelle überschritten wird. Wenn gleichzeitig die Mobilität gering ist und andere Schutzkonzepte weiter angewandt werden, dann geht das Virus lokal bald vergeblich auf Wirtssuche.
Das übergeordnete Ziel jeder Impfreihenfolge war von Anfang an, möglichst viele Leben zu bewahren. In der nächsten Phase der Kampagne bedeutet das, pragmatische Entscheidungen zu treffen. Der Weg durch die Pandemie war von Anfang an kurvenreich, also muss auch immer neu abgewogen werden, in wessen Körper die verfügbaren Impfdosen gerade den größten Nutzen für die Gemeinschaft entfalten.