100 Tage. Ist das viel oder wenig? Wer gewinnt und wer verliert? Wenn Kriegsbilanz in der Ukraine gezogen wird, müssen andere Maßstäbe gelten, als wenn es um eine neue Regierung gehen würde.
Es ist viel, denn nicht wenige vor allem im Westen glaubten am Anfang, die Regierung in Kiew hätte nur zwei, drei Tage dem russischen Angriff Widerstand leisten können. Das war wohl auch ein Grund, warum manche Länder, darunter Deutschland, mit Waffenlieferungen zögerten. Ein Fehler. Andere, vor allem die USA und Großbritannien, lieferten wie am Fließband. Damit haben sie geholfen, eine frühe ukrainische Niederlage zu verhindern. Deshalb lautet die erste Lektion seit Kriegsbeginn: Schnelle Waffenlieferungen retten Leben.
Und wenn man beim Beispiel Deutschland bleibt: Der Wandel von den im Februar zugesagten Helmen bis zur aktuellen Ankündigung, modernste Flugabwehrsysteme IRIS-T an die Ukraine zu liefern, dauerte fast drei Monate. Das ist viel zu lang, auch wenn man die deutsche Geschichte mitberücksichtigt. Berlin kann es besser und die jüngste Verlautbarung des Bundeskanzlers lässt hoffen, dass es auch anders geht. Bitte weiter so und zwar ohne Verzögerungen!
Russland will Großteil der Ukraine besetzen
100 Tage sind aber auch wenig, denn der Krieg beginnt erst. Russland versuchte am Anfang einen Blitzkrieg, scheiterte und stellte auf Zermürbungstaktik um. Nach dem Motto: Man schluckt einen Apfel nicht am Stück, um nicht zu ersticken, sondern beißt immer wieder ein Stückchen ab. Die Ukraine ist so ein Apfel. Und damit sind wir bei der zweiten Lektion dieses Krieges.
Russland ist leider tatsächlich genau so wahnsinnig wie es in den propagandistischen Talkshows jahrelang gepredigt wurde - und was viele ignoriert haben. Das verheißt nichts Gutes für die Ukraine, für Europa und für die Welt. Präsident Wladimir Putin hat einen revanchistischen Vernichtungskrieg begonnen und wird nicht aufhören. Moskaus Drohung mit Atomwaffen ist kein Bluff.
Die Konsequenz: Es muss jetzt und nicht später alles getan werden, um ihn aufzuhalten. Denn später kann auch zu spät sein. Die Ukraine verliert täglich und stündlich Soldaten, Zivilisten und Territorium. Geschätzte Zehntausende Tote - auch das ist eine bittere Zwischenbilanz der ersten 100 Tage. Die russischen Ziele sind inzwischen klar: Kurz- bis mittelfristig möchte Russland einen Großteil der Ukraine besetzten, das Land vom Zugang zum Meer abschneiden und alles Ukrainische auslöschen. Wenn das gelingt, werden andere Länder in Osteuropa erpresst, sich Moskau zu fügen oder einen Krieg zu riskieren.
Kriegsmüdigkeit droht Hilfsbereitschaft zu mindern
Die gefährlichste Phase dieses Krieges fängt erst richtig an. Die heftigsten Kämpfe toben im Kohlerevier Donbass. Die ukrainische Armee dort ist am besten vorbereitet, denn sie hatte acht Jahre Zeit dafür. Deshalb konnte Russland im Donbass am Anfang kaum vorrücken. Das ändert sich gerade, weil Moskau die gesamte Feuerkraft an einem Frontabschnitt konzentriert und damit eine deutliche Überlegenheit schafft.
Sollte Russland im Donbass Erfolg haben, könnte es danach schneller seinen Weg Richtung Mitte freibomben - und wieder versuchen, Kiew einzunehmen und die Regierung zu stürzen. Putin hat kein Interesse an Verhandlungen, denn er glaubt, mehr Ressourcen zu haben. Diese Phase ist auch deshalb gefährlich, weil der Krieg alltäglich geworden ist. Andere Themen dominieren inzwischen die Schlagzeilen, Kriegsmüdigkeit setzt ausgerechnet vor der Urlaubszeit ein. Die Aufmerksamkeit schwindet, die Kriegsmüdigkeit droht die Hilfsbereitschaft zu mindern - das darf nicht passieren.
Ein Frieden in der Ukraine ist derzeit illusorisch. Die Ukraine braucht dringend schwere Waffen, aber auch härtere Sanktionen. Das mit Mühe ausgehandelte Ölembargo muss endlich in Kraft treten und bald verschärft werden. Die Stunde der Diplomatie wird erst schlagen, wenn der russische Vormarsch zumindest gestoppt wird. Es droht ein heißer Kriegssommer. Jeder Tag zählt.