Menschenrechte nicht zugunsten von Wirtschaftsinteressen aushebeln
17. August 2005Menschenrechte sollen die Leitlinie unserer Politik sein und zur Querschnittsaufgabe aller Ressorts werden: So versprachen es sich die rot-grünen Koalitionäre 1998 in die Hand. Klar war außerdem: Multilaterale Politik ist unter der Ägide der UNO und in verbindlichem Rekurs auf das Völkerrecht zu gestalten.
Diese Selbstverpflichtung der rot-grünen Bundesregierung klingt heute wie aus einer anderen Zeit. Zwar erlitten auch 1998 leider zu viele Menschen schwere Verletzungen ihrer Rechte. Aber es war kaum vorstellbar, dass Rechtsstaaten Völker- und Menschenrecht ganz offen hintanstellen und zum Luxus friedlicher Zeiten erklären, an die man sich im "Krieg gegen den Terrorismus" leider nicht immer halten könne.
Sicherheit vor Menschenrecht?
Bedingt durch die bisherige Praxis des "Krieges gegen den Terror" steht die internationale Gemeinschaft nun an einem Scheidepunkt. Sie wird sich entscheiden müssen, ob sie es mit der Durchsetzung der Menschenrechte weiterhin ernst meint oder vor dem Primat eines militärisch-polizeilichen Sicherheitskonzepts kapituliert.
Die neue deutsche Bundesregierung, die wir voraussichtlich im September wählen werden, sollte zum Vorreiter einer internationalen Bewegung werden, die sich dieser Entwicklung entgegenstemmt. Ein Ansatzpunkt ist, dass sie die bevorstehende UN-Reform führend vorantreibt. Die derzeitige Regierung hat zu sehr nach einem Sitz im Sicherheitsrat gestrebt und es bisher versäumt, sich deutlich für eine Verbesserung und Stärkung des Menschenrechtsschutzes in der UNO zu engagieren, zum Beispiel für einen ständigen UN-Menschenrechtsrat, wie ihn Kofi Annan vorgeschlagen hat.
Unkritischer Kanzler
Unbestritten ist, dass sich Deutschland in den vergangenen Jahren international wiederholt entschieden engagiert hat – etwa für einen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), für die Verurteilung der Menschenrechtsverbrechen im sudanesischen Darfur. In der bilateralen Politik gegenüber mächtigen Staaten liegt der Lackmustest einer kohärenten Menschenrechtspolitik, und den hat die derzeitige Bundesregierung zu oft nicht bestanden.
Denn es nützt wenig, wenn der Außenminister deutliche Worte für das Vorgehen der chinesischen Regierung findet, das Kanzleramt aber zugunsten von Wirtschaftsverträgen Augen und Lippen zudrückt und gar das EU-Waffenembargo gegen China aufheben will. Der so genannte Rechtsstaatsdialog muss transparent und ergebnisorientiert geführt werden. Die Ergebnisse gilt es kritisch zu bewerten.
Vergeblich mühen sich deutsche Diplomaten, wenn sie sich in der UN-Menschenrechtskommission dafür stark machen, dass Russland für seine Tschetschenienpolitik verurteilt wird, der Regierungschef zuhause aber öffentlich den "russischen Rechtsstaat" lobt. Eine deutsche Bundesregierung muss sich für eine internationale Untersuchungskommission zu den Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien einsetzen. Sie muss helfen, Menschen zu schützen, die sich wegen der Vorfälle in Tschetschenien an den Europäischen Gerichtshof wenden und daher bedroht werden oder gar um ihr Leben fürchten.
Ein Ausblick
Die neue Bundesregierung wird auf Erreichtem aufbauen können. Neue und aufgewertete Institutionen wie der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Bundestages, das Deutsche Institut für Menschenrechte und die Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt und im Justizministerium haben für mehr Konstanz und mehr Koordination in der Menschenrechtspolitik gesorgt. Davon hat auch die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen profitiert. Aber noch fehlt es an entsprechenden Strukturen und Einsichten in Schlüsselressorts wie Wirtschaft, Verteidigung und Inneres. Die deutsche Politik muss die Menschenrechte als Leitlinie beibehalten, in allen Ressorts verankern und sie auch dann hochhalten, wenn Wirtschaftsinteressen, Antiterrormaßnahmen oder falsche Rücksichtsnahmen sie aufweichen oder aushebeln wollen.
Barbara Lochbihler, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland