Die Kanzlerin, der Bundestag und die Türkei
20. Mai 2016Nun findet also auch Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestags und CDU-Politiker, kritische Worte für die Türkei. Als überzeugter Parlamentarier konnte und wollte er wohl nicht länger zusehen, wie der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mit dem Parlament in Ankara umspringt. "Autokratische Ambitionen" attestierte Lammert Erdogan. Mit seinem Vorgehen setze der Präsident "leider eine ganze Serie von Ereignissen fort, mit denen sich die Türkei immer weiter von unseren Ansprüchen an eine Demokratie entfernt", sagte der Bundestagspräsident der "Süddeutschen Zeitung".
Es geht um Erdogans Vorgehen gegen das Parlament in Ankara, das der Aufhebung der Immunität vor allem von Abgeordneten der prokurdischen Oppositionspartei HDP zustimmen soll. Erdogan und andere Regierungsvertreter betrachten die HDP und ihre demokratisch gewählten Abgeordneten als politischen Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Eine Zweidrittel-Mehrheit soll her
Das türkische Parlament hatte in einer ersten Runde zwar für die Aufhebung der Immunität gestimmt. Aber nur mit einfacher Mehrheit. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit für eine direkte Verfassungsänderung zu diesem Zweck wurde am Dienstagabend in Ankara jedoch nicht erreicht. Die AKP hofft, die erforderliche Mehrheit nun in einer zweiten Abstimmungsrunde, die an diesem Freitag stattfinden soll, zu erreichen.
Für Norbert Lammert ein Grund, das türkische Parlament zur "Selbstbehauptung" aufzurufen. Denn die neue Attacke Erdogans auf die parlamentarisch-demokratischen Strukturen in der Türkei könne nur erfolgreich sein, "wenn das Parlament sich auf dem Wege der Selbstentmachtung dazu bereitfindet". Die notwendige Mehrheit komme "nur dann zustande, wenn nicht nur die Abgeordneten der regierenden AKP zustimmen, sondern auch eine Mindestzahl an Abgeordneten anderer Fraktionen".
Norbert Lammert ist ein Mann der klaren Worte und ein Parlamentarier durch und durch. "Hier schlägt das Herz der Demokratie, oder es schlägt nicht", sagte er bei seinem Amtsantritt als Parlamentspräsident vor elf Jahren und fügte noch hinzu, das Parlament sei nicht Vollzugsorgan der Bundesregierung, sondern – umgekehrt – Auftraggeber. Die Souveränität des Parlaments geht ihm über alles, eine Einstellung, mit der er selbst seine Parteifreundin Angela Merkel ab und zu nervt.
Das dürfte auch jetzt wieder der Fall sein. Denn Merkel kann es nicht ins politische Kalkül passen, wenn der Bundestagspräsident den türkischen Staatspräsidenten derart rügt. Zwar ist das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara ohnehin angespannt. Doch es macht schon einen Unterschied, ob sich deutsche Oppositionspolitiker kritisch über die Türkei äußern, oder der Bundestagspräsident.
Unmut über Pakt mit Ankara
Seit Wochen muss die Bundeskanzlerin zusehen, wie sich in der deutschen Politik immer mehr Unmut über den Flüchtlings-Pakt zwischen der EU und der Türkei breit macht. Quer durch alle Fraktionen wird inzwischen die Frage gestellt, ob die Türkei tatsächlich ein verlässlicher Partner für Deutschland und Europa sein kann. Die Linke und die Grünen verneinen das schon lange. Aber auch aus den Reihen der Regierungsparteien werden die Gegenstimmen lauter.
Mehrfach wurde im Bundestag über die politische Entwicklung in der Türkei debattiert. Vor allem die zunehmenden Einschränkungen in der Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit werden kritisiert. Vor einer Woche beantragte die Linksfraktion, die Kooperation mit der Türkei zu beenden.
Die Vereinbarung sei ein "dreckiger Deal" und müsse gestoppt werden, urteilte der linke Abgeordnete Jan Korte. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sei in der Flüchtlingskrise "nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems" und trage selbst zu neuen Fluchtbewegungen bei.
Für die Unionsfraktion verteidigte der Abgeordnete Stephan Mayer das EU-Türkei-Abkommen als einen "wichtiger Baustein im gesamten Instrumentenkasten" zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Klar sei aber auch, so Mayer, dass Erdogan "kein einfacher Verhandlungspartner und Zeitgenosse" sei. "In der Türkei gibt es viele Vorkommnisse, die in höchstem Maße kritikwürdig sind." Das Regime verletze in fundamentaler Weise elementare Menschenrechte.
Gabriel legt sich fest
Parteiübergreifend sind sich die Abgeordneten einig, dass sich Deutschland nicht erpressbar machen, also nicht in zu große Abhängigkeit von der Türkei und Präsident Erdogan geraten darf. So sagte der CSU-Politiker Hans-Peter Uhl in einer Bundestagsdebatte Ende April, in der es um die Presse- und Meinungsfreiheit ging: "Wenn wir das Schicksal Deutschlands allein in die Hände dieses Herrn legen würden, oh Gott, dann wären wir wirklich erpressbar."
Wie unterschiedlich Bundestag und Bundesregierung mit der Türkei umgehen, zeigt sich sehr gut auch beim Thema Armenien. Anfang Juni will der Bundestag auf Antrag von CDU, CSU, SPD und Grünen eine Resolution beschließen, mit der die Gräuel an den Armeniern vor 100 Jahren als "Völkermord" eingestuft werden. Die Türkei als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reichs hat das zwar bedauert, bestreitet aber vehement, dass es sich um Völkermord gehandelt habe.
Die Bundesregierung hatte es aus Rücksicht auf Ankara lange vermieden, von einem Völkermord zu sprechen. Auch jetzt dominiert die Vorsicht. "Ich hoffe, dass die deutsch-türkischen Beziehungen durch die Resolution nicht belastet werden und wir weiter gut zusammenarbeiten können", sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier mit Blick auf die geplante Abstimmung im Bundestag. Bundeswirtschaftsminister, Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel hat sich allerdings festgelegt. Er werde dem Antrag zustimmen, heißt es aus seinem Ministerium.