Merkel: Habe von Putin Nawalnys Freilassung gefordert
20. August 2021Genau ein Jahr nach dem Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau getroffen. Obwohl es "tiefgreifende Differenzen" gebe, rede man miteinander, sagte die deutsche Regierungschefin vor dem Gespräch mit ihrem Gastgeber. Die Pressekonferenz, die danach angesetzt war, verzögerte sich um eineinviertel Stunden. Dann traten Merkel und Putin vor die versammelten Journalisten. Immer wieder blitzten hinter der formalen Höflichkeit die Konfliktlinien auf.
Der russische Präsident sprach von "konstruktiven" Gesprächen in "geschäftlicher" Atmosphäre. Er lobte Merkel zu deren mutmaßlichem Abschied aus der Politik, der in wenigen Monaten ansteht. Nach sechzehnjähriger Amtszeit kandididert die Kanzlerin bei der Bundestagswahl im September nicht mehr. Bis eine Nachfolgeregierung ihre Arbeit aufnehmen kann, wird sie aber weiter die Geschäfte führen.
Parforceritt durch ein Minenfeld
Putin startete mit dem Themenblock Afghanistan und sagte, es müsse darauf hingewirkt werden, dass die radikalislamischen Taliban ihre Macht nicht über die Landesgrenzen hinaus erweitern können. Es gelte zu verhindern, dass "Terroristen" in die Nachbarstaaten gelangten, etwa indem sie sich "als Flüchtlinge ausgeben". Er warf dem Westen vor, dieser habe versucht, Afghanistan von außen "Werte aufzuzwingen".
Sodann kam Putin zum Ukraine-Konflikt, sprach Verstöße gegen die Waffenruhe im Osten des Landes an und forderte Merkel auf, Einfluss auf die Regierung in Kiew auszuüben, wenn sie am Sonntag dorthin reise. Auch Belarus streifte der Präsident in seiner Tour d'Horizon, ebenso den Iran, der seit kurzem einen neuen Präsidenten hat, und den Syrien-Konflikt.
"Verurteilung Nawalnys ist nicht akzeptabel"
Merkel begann ihr Statement mit der Erinnerung an den Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion vor 80 Jahren und erwähnte ihre Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten. Doch dann kam sie rasch zur Verurteilung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, dessen Freilassung sie von Putin gefordert habe.
"Aus unserer Perspektive ist die Verurteilung zum Aufenthalt in einer Strafkolonie auf der Grundlage eines früheren Urteils, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ja für offenkundig unverhältnismäßig klassifiziert hat, nicht akzeptabel."
"Krim-Annexion verletzt Integrität der Ukraine"
Mit Blick auf die Pipeline Nord Stream 2 sei über die Vereinbarung zwischen Deutschland und den USA über das Projekt gesprochen worden. Die Kanzlerin setzte sich dafür ein, dass die Ukraine weiterhin Transferland für russisches Gas bleibt - auch nach der Inbetriebnahme von Nord Stream 2.
Merkel ging ebenfalls auf die Lage in Afghanistan ein, sodann auf die Situation in der Ukraine. Sie habe sich für "eine Belebung" der Gespräche starkgemacht, die helfen sollen, den dortigen Konflikt beizulegen. Schließlich untermauerte sie mit einem grundsätzlichen Statement die bekannte Position Berlins und der anderen Westmächte: Deutschland halte an seiner Haltung fest, dass die Annexion der Krim eine Verletzung der territorialien Integrität der Ukraine darstelle.
"Es waren nicht immer einfache Gespräche", summierte Merkel ihre langen Erfahrungen mit Putin. Es gebe aber keine Alternative dazu, immer wieder Argumente auszutauschen und "dicke Bretter zu bohren". Allerdings hätten sich die politischen Systeme Deutschlands und Russlands während ihrer Regierungszeit "noch einmal weiter auseinanderentwickelt". Trotz großer Differenzen sei es jedoch gelungen, den Gesprächskanal offenzuhalten.
Putin bittet um "gewisse Objektivität"
Auf die Frage eines Journalisten, was nötig sei, damit Nawalny freikomme, entgegnete Putin - wie gewohnt, ohne dessen Namen zu nennen -, dieser sei nicht für politische Handlungen verurteilt worden, sondern er habe Regeln verletzt.
Was die Opposition insgesamt anbelange, könne er sich nicht daran erinnern, dass in westlichen Staaten Protestbewegungen wie etwa Occupy von Regierungsseite unterstützt worden seien. Er bitte daher um eine "gewisse Objektivität". Das russische System befinde sich in einer Entwicklung. Alle Staatsbürger hätten das Recht, ihre Meinung kundzutun - aber im gesetzlichen Rahmen. Russlands Führung werde "alles" dafür tun, die Situation stabil zu halten.
Beziehungen am Tiefpunkt
Nawalny war am 20. August 2020 auf einem Flug vom sibirischen Tomsk nach Moskau zusammengebrochen. Zwei Tage später wurde der Oppositionspolitiker, noch im Koma liegend, zur Behandlung in die Berliner Charité gebracht. Nach Merkels Worten steht "zweifelsfrei" fest, dass Nawalny mit einem Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe attackiert wurde. Die Kanzlerin sprach im September von einem "versuchten Giftmord" und erklärte damals: "Er sollte zum Schweigen gebracht werden."
Nach seiner Behandlung in Deutschland wurde Nawalny bei seiner Rückkehr im Januar in Russland festgenommen und später wegen angeblicher Verstöße gegen Bewährungsauflagen zu mehr als zwei Jahren Lagerhaft verurteilt. Nawalnys politische Organisationen wurden inzwischen als "extremistisch" eingestuft und verboten.
Der Fall des prominenten Putin-Widersachers brachte die ohnehin seit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim äußerst angespannten Beziehungen zwischen Russland und dem Westen auf einen neuen Tiefpunkt. Während die EU weitere Sanktionen gegen Russland verhängte, wirft Moskau den USA, der EU und insbesondere auch Deutschland vor, eine "Propagandakampagne" zu führen.
Im Geschäft bleiben
Zugleich ist Berlin daran interessiert, mit dem Kreml nicht nur im Gespräch, sondern auch im Geschäft zu bleiben: Deutschland will russisches Gas über die Pipeline Nord Stream 2 erhalten. Die Leitung soll in Kürze fertiggestellt werden. Nach Unternehmensangaben wurden durch die bereits existierende Pipeline Nord Stream in den ersten sieben Monaten dieses Jahres 33,7 Milliarden Kubikmeter Gas nach Deutschland gepumpt. Die zu 99 Prozent fertiggestellte Nord Stream 2 soll zusammen mit der bereits betriebenen Pipeline eine Transportkapazität von 110 Milliarden Kubikmeter pro Jahr haben.
Die Vereinigten Staaten, die Ukraine und weitere europäische Staaten werfen der Bundesregierung vor, sich mit der neuen Pipeline von russischen Gaslieferungen abhängig zu machen - und zudem die Position Kiews gegenüber Moskau zu schwächen. Bisher ist die Ukraine das wichtigste Transitland für die Gaslieferungen nach Europa. Deutschland will erreichen, dass Russland auch künftig Gas durch die Ukraine leitet, damit die finanzschwache Ukraine ihre Transiteinnahmen nicht verliert. Der Vertrag zwischen Kiew und Moskau zur Durchleitung von Gas nach Europa läuft 2024 aus.
jj/se (phoenix, dpa, afp, rtr)