Merkel: Notbremse ist "dringend" und "überfällig"
16. April 2021"Wenn wir nach 13 Monaten Pandemie eine Lektion wirklich gelernt haben", dann sei es diese: "Das Virus verzeiht keine Halbherzigkeiten. (…) Es versteht nur eine einzige Sprache: Entschlossenheit." Mit diesen Worten warb Angela Merkel eindringlich für die vom Kabinett am Dienstag beschlossene "Notbremse" in der Corona-Bekämpfung. Die Bundeskanzlerin wiederholte noch einmal ihre Mahnung: "Die Lage ist ernst, und zwar sehr ernst."
Um die "dritte Welle" zu brechen, müsse man die Pandemiebekämpfung von Bund und Ländern "auf neue Füße stellen" und einheitliche, bundesweit geltende Maßnahmen ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 durchsetzen, also ab 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in diesem Zeitraum. Hierzu zählten ausdrücklich auch Ausgangsbeschränkungen, so Merkel. Diese seien "natürlich kein Allheilmittel". Es gelte aber zu entscheiden, ob die Vorteile die Nachteile - wie den "nicht zu leugnenden erheblichen Eingriff in die persönliche Freiheit" - überwögen.
"Reduzierung von Mobilität"
Einwände nehme sie ernst, sagte die Bundeskanzlerin. Weil es in der Pandemiebekämpfung stets auch um die Reduzierung von Kontakten gehe, müsse es auch um die Reduzierung von Mobilität gehen. Sie werbe daher für die nächtlichen Ausgangssperren zwischen 21.00 und 5.00 Uhr, die nach Überzeugung von Beobachtern zu Klagen und Verfassungsbeschwerden führen dürften.
Auch aus den Regierungsfraktionen war Kritik an der geplanten Neufassung des Infektionsschutzgesetzes gekommen, die sich vor allem auf diesen Punkt bezogen. So mahnte der SPD-Rechtspolitiker Johannes Fechner, es müsse "weitere Ausnahmen" geben. "Die Ausgangssperren sind zu pauschal gefasst." Wer mit der Partnerin oder dem Partner abends noch spaziergehen wolle, solle die Möglichkeit dazu haben, sagte Fechner der "Rheinischen Post".
"Alarmierendes Dokument"
Die größte Oppositionsfraktion lehnt den Entwurf indes grundsätzlich ab. Es handele sich um ein "alarmierendes Dokument obrigkeitsstaatlichen Denkens", sagte AfD-Fraktionschefin Alice Weidel. "Sie misstrauen den Bürgern. Deshalb wollen Sie sie tagsüber gängeln und nachts einsperren."
Andere Redner des Oppositionslagers signalisierten ihre Bereitschaft, mit der Regierung zusammenzuwirken, verlangten aber Nachbesserungen. In der Vorlage fehle eine Unterscheidung zwischen Geimpften und Nichtgeimpften, kritisierte der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner. Auf das unterschiedliche Infektionsgeschehen in den Regionen müsse differenzierter reagiert werden. Gegen die Ausgangsbeschränkungen werde man notfalls vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, kündigte Lindner an.
Zu viel - oder zu wenig?
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt wiederum bemängelte, die Vorlage sei nicht weitreichend genug. "Es ist nicht die dringend benötigte Strategie." Die Notbremse sollte schon bei niedrigeren Infektionswerten greifen. So müsse in Schulen Wechselunterricht bereits ab einer Inzidenz von 50 gelten, forderte Göring-Eckardt. Der Regierungsentwurf sieht ab einer Inzidenz von 100 zwei Tests pro Woche vor. Ab dem Grenzwert 200 soll bis auf wenige Ausnahmen kein Präsenzunterricht mehr stattfinden.
Der Bundestag behandelte den Gesetzentwurf in erster Lesung. Noch am Nachmittag sollen die geplanten Schritte in einer öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss beraten werden. Die Verabschiedung im Bundestag ist für Mittwoch vorgesehen. Danach muss das Gesetz noch den Bundesrat passieren; bereits Ende der Woche soll es in Kraft treten.
"Am Rand seiner Kapazität"
Die immer dramatischere Corona-Lage in den Kliniken hatte zuletzt den Ruf nach einem schnelleren Lockdown lauter werden lassen. "Wir müssen jetzt handeln, auf allen Ebenen, und natürlich auch besonders auf der Ebene der Entscheider", hatte der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, am Donnerstag in Berlin erklärt.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) warnte vor der Debatte, "dass ohne einen Stopp dieser Entwicklung unser Gesundheitssystem an den Rand seiner Kapazität gelangen wird". Die Länder sollten nicht bis zur geplanten Bundes-Notbremse warten. Auch Intensivmediziner der Vereinigung DIVI mahnten nochmals zur Eile.
Kardiologe warnt vor Bettenmangel
Uwe Janssens, Chefarzt der Inneren Medizin und Kardiologie am Sankt-Antonius-Hospital Eschweiler, sagte gegenüber der DW, dass es in einigen Teilen Deutschlands "nicht genug" Intensivbetten für hospitalisierte COVID-19-Patienten gebe und dass "sehr starke Maßnahmen" nötig seien, um die Infektionen zu senken. "Im Moment üben die steigenden Zahlen hier in der Nähe von Köln und insgesamt in Deutschland einen großen Druck auf die Intensivstationen aus", sagte Janssens. "In manchen Gegenden gibt es nur noch 5 bis 7 Prozent freie Intensivbetten. Das reicht aber nicht aus."
Wochen- und monatelang habe man den Behörden gesagt, dass sie sehr harte Maßnahmen ergreifen sollen, "wie zum Beispiel eine strikte Schließung, um zu versuchen, die Kurve zu glätten und die Kurve nach unten zu bringen. Niemand hat auf uns gehört." Janssens sagte, dass "unverantwortliche" Politiker schlecht auf die Krise reagierten. "Jetzt haben sie erkannt, und es ist gut, dass sie erkannt haben, dass der Druck von sehr kranken Menschen zunimmt."
"Ich denke, eine Ausgangssperre zwischen 21 und 5 Uhr sollte ein Zusatz zu allen anderen Maßnahmen sein", schlug Janssens als Möglichkeit zur Eindämmung von Infektionen vor und verwies auf erfolgreiche Reduktionsstrategien in Großbritannien, Irland und Portugal. "Aber die Leute sind sehr müde, diese Vorschriften zu befolgen, und die Folgsamkeit der breiten Bevölkerung in Deutschland nimmt ab."
jj/ml/wa/kle (dpa, rtr, afp, DW)