Wieler: "Dann hilft auch keine Notbremse mehr"
15. April 2021"Wir müssen die Zahlen runterbringen. Es ist naiv zu glauben, das Virus wegtesten zu können. Das funktioniert nicht", sagte der Leiter des Robert Koch-Instituts Instituts (RKI) Lothar Wieler auf einer Pressekonferenz mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in Berlin. Gemeinsam drangen beide auf sofortige weitergehende Einschränkungen des öffentlichen Lebens. "Jeder Tag zählt gerade in dieser schwierigen Lage", sagte Spahn.
Wieler verglich die aktuelle Pandemielage mit einem Bild: "Stellen Sie sich vor, Sie fahren über enge Straßen in den Dolomiten. Es ist kurvenreich und an einer Seite ist ein steiler Abhang. Jeder weiß, in diese Kurve kann ich nur mit 30 fahren. Wenn ich hier mit einer Geschwindigkeit von 100 reinfahre, dann ist das lebensgefährlich. Man kommt nämlich von der Straße ab. Und ehrlich gesagt hilft dann auch keine Notbremse mehr."
Spahn fordert Bundesländer zum Handeln auf
Um die sogenannte "Bundes-Notbremse" gibt es weiter Streit. Die vom Bundeskabinett bereits verabschiedeten Änderungen des Infektionsschutzgesetzes werden frühestens kommende Woche in Bundestag und Bundesrat verabschiedet. Allerdings kündigten die Freien Wähler und mehrere Unternehmen an, per Verfassungsbeschwerde am Bundesverfassungsgericht gegen die geplante Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes vorgehen zu wollen.
Gesundheitsminister Spahn appellierte an die Landesregierungen, mit einem Einschreiten nicht zu warten, bis die "Bundes-Notbremse" des Gesetzgebungsverfahren passiert hat. Alle hätten schon jetzt die Möglichkeit zu handeln, betonte er. Konkret schlug er Einschränkungen im Privatbereich vor, weil sich dort die meisten Menschen infizierten. Auch Schulschließungen seien eine Option, sagte Spahn.
Zahl der Corona-Neuinfektionen nähert sich Rekordwert an
Mit 29.426 gemeldeten Corona-Neuinfektionen binnen eines Tages nähern sich die Zahlen dem bisherigen bundesweite Höchstwert an. Zugleich ist dies ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Wert der Vorwoche, als knapp 9000 Fälle weniger gemeldet worden waren. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg von 153,2 am Vortag auf 160,1. Zudem meldete das RKI 293 weitere Todesfälle im Zusammenhang mit einer COVID-19-Erkrankung.
Die Fallzahlen nähmen nicht zu, weil mehr getestet werde, betonte Wieler. Es gebe 12 Prozent positive PCR-Tests - aber nur die Hälfte der Kapazität werde überhaupt ausgeschöpft. Erschwert wird die Eindämmung der Neuinfektionen durch die massive Ausbreitung der
ansteckenderen Virus-Mutante B.1.1.7, die laut Wieler inzwischen einen Anteil von 90 Prozent erreicht hat. Laut Studien sei die sogenannte britische Variante um 30 bis 70 Prozent ansteckender. "Die Übertragung ist so rasch und intensiv", daher bekomme man das Virus nicht weggetestet.
Wieler wies zudem darauf hin, dass die meisten Neuerkrankungen mittlerweile bei den 15- bis 49-Jährigen verzeichnet würden. Die Todeszahlen gingen jedoch nicht zurück. Es sei zwar positiv, dass mittlerweile 17 Prozent der Bundesbürger mindestens einmal geimpft seien. Allerdings müssten noch sehr viele Menschen monatelang auf ihre Impfung warten.
Wieler: "Lage in den Krankenhäusern spitzt zu"
Das verstärkte Infektionsgeschehen macht sich auch auf den Intensivstationen immer stärker bemerkbar. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), die in ihrem Intensiv-Register täglich die Zahl der verfügbaren Intensivbetten in deutschen Krankenhäusern dokumentiert, erwartet, dass der bisherige Höchststand von etwa 6000 COVID-19-Intensivpatienten noch im April wieder erreicht wird.
"Die Lage in den Krankenhäusern spitzt sich teilweise dramatisch zu und wird uns auch noch härter treffen als in der zweiten Welle. Wir müssen jetzt handeln", sagte Wieler. Der RKI-Leiter riet allen Kliniken, ihren Regelbetrieb einzuschränken, um Kapazitäten zur Behandlung von schwer kranken Patienten zu schonen. Es gebe jetzt schon in einigen Städten und Ballungsgebieten auf den Intensivstationen keine freien Betten mehr. "Und das ist eine Situation, in der wir mit mehr Patienten rechnen müssen."
Wegen der Schwere der Erkrankungen würden auf den Intensivstationen immer mehr künstliche Lungen benötigt, sagte der RKI-Präsident. Acht von zehn Geräten seien mit COVID-Patienten belegt. Darunter seien inzwischen auch viele jüngere Erwachsene.
Intensivmediziner: "Wir haben fünf nach zwölf"
Auch der wissenschaftliche Leiter des Divi-Intensivbettenregisters, Christian Karagiannidis, sendete erneut einen Hilferuf. "Wir können es uns nicht leisten, noch wochenlang zu diskutieren", warnte er im "Tagesspiegel". In einigen Regionen gebe es nur noch zehn Prozent freie Kapazitäten, warnte auch Steffen Weber-Carstens, Intensivmediziner an der Berliner Charité. Angesichts der durchschnittlichen Größe der Intensivstationen von zehn bis zwölf Betten bedeute dies, "pro Intensivstation genau ein Bett". Dies werde auch vorgehalten für Patienten zum Beispiel mit Schlaganfall oder Unfällen - und für COVID-19-Patienten.
"Wir haben fünf nach zwölf, ihr müsst jetzt handeln, es muss jetzt eine Strategie verfolgt werden, die bundesweit einheitlich gilt", mahnte der frühere Divi-Präsident Uwe Janssens im Fernsehsender Phoenix: Wären die vor Wochen beschlossenen Maßnahmen flächendeckend umgesetzt worden, hätte man die aktuelle Entwicklung mit einem starken Anstieg der Infektionszahlen noch abschwächen können.
Wenn das geplante Bundesgesetz erst Ende April beschlossen werde, werde die Patientenzahl auf 7000 steigen, hatte der jetzige Divi-Präsident Gernot Marx bereits prognostiziert. "Wir reden über sehr viele schwere Erkrankungen und über viele Menschen, die das nicht überleben werden", sagte er. Karagiannidis betonte, den Tod seien Intensivmediziner zwar gewohnt - "aber so etwas hat es noch nicht gegeben".
ww/nob (dpa, afp, rtr)