Die letzten Centavos für die Fahrt zur Tafel
31. Mai 2020Jeden Freitag packt Arsenia Cortés frühmorgens zwei riesige Nylontaschen in ihren abgewetzten Rucksack und macht sich auf den Weg. Eine ganze Stunde braucht die 47-jährige Mexikanerin von ihrem Dorf Amozoc bis in die Provinzhauptstadt Puebla, zweimal muss sie den Bus wechseln. 35 Pesos kostet die Fahrt, rund 1,50 Euro. Obwohl sie jeden Centavo umdrehen muss, spart sie nicht an diesen Fahrten. Ihr Ziel: die Stiftung der mexikanischen Nahrungsmittelbanken (BAMX), eine gemeinnützige Tafel für Bedürftige. Die Organisation hat Ableger im ganzen Land. Der in Puebla ist in einem großen, schmucklosen Betonklotz untergebracht, in einem Industriegebiet direkt an der Autobahn.
"Ohne die Tafel wüsste ich nicht, wie meine Familie über die Runden käme in dieser Krise", erzählt die Mutter dreier Teenager, während sie in der Schlange vor dem Gebäude wartet. "Die Geschäfte gehen schlecht." Cortés vertreibt Kosmetikprodukte von Haustür zu Haustür. Ihr Mann arbeitet in einer Schmiedewerkstatt, die seit Mitte März kaum noch Aufträge hat. Früher musste sie die Hilfe der Tafel nur einmal im Monat in Anspruch nehmen, nun kommt sie einmal pro Woche.
Ein Viertel mehr Menschen zu versorgen
Im Büro im Erdgeschoss erklärt Pedro Mayoral einem Sozialarbeiter seine Lage. Er schreibt sich zum ersten Mal ins Programm ein. "Ich lebe vom Verkauf gebrauchter Kleider", erzählt der 72-Jährige. "Aber jetzt ist mein Einkommen weggebrochen, und ich weiß nicht mehr weiter", fügt er beschämt hinzu, bevor er sich zu Fuß auf den halbstündigen Rückweg nach Hause macht. Eine dreiviertel Million Mexikaner hat der Regierung zufolge bereits Überbrückungskredite erhalten - doch es ist ein Tropfen auf den heißen Stein, und Millionen wie Mayoral und Cortés fallen durch das löchrige Netz.
Die Zahl der Hilfsempfänger bei BAMX hat durch die Pandemie einen historischen Höchststand erreicht, erzählt Direktor Miguel Rojas. In ganz Mexiko versorgten die in einem Netzwerk zusammengeschlossenen Tafeln voriges Jahr 1,3 Millionen Menschen - im Mai schnellte die Zahl auf 1,6 Millionen. In Puebla waren im Januar 130.000 Begünstigte eingeschrieben, nun sind es 160.000. Rojas rechnet damit, dass in den kommenden Monaten 200.000 werden: "Das wird eine Herausforderung, denn wir müssen entsprechend mehr Spenden bekommen."
Aufwendiger Hygieneschutz ist Pflicht
In Puebla, wo die Hälfte der sechs Millionen Einwohner in Armut leben, befindet sich einer der größten und modernsten Ableger des Netzes. In der großen Lagerhalle geht es zu wie im Taubenschlag. Der Herr über das Gewusel ist Eric Limón. Der Logistikchef führt darüber Buch, was reinkommt und wie viel rausgeht. "Im Februar lieferten wir 1500 Essenspakete pro Tag aus, jetzt sind es fast 3000", sagt er wie aus der Pistole geschossen. Nicht nur das bereitete Rojas lange Tage und kurze Nächte. Nach Ausbruch der Pandemie musste die Tafel in Rekordzeit außerdem neue Hygienestandards etablieren.
Nun steht vor dem Eingang ein mobiles Waschbecken mit Seife. Jeder Besucher muss über mindestens zwei Desinfektionsteppiche und durch einen Tunnel mit vernebeltem Desinfektionsspray laufen. Am Eingang wird Fieber gemessen, Mundschutz ist für alle Pflicht und gelb-schwarz markierte Kreuze am Boden markieren die Warteplätze mit gebührendem Abstand. Die freiwilligen Helfer tragen zu ihren Handschuhen und roten Arbeitskitteln Schürzen, die jeden Abend heiß gewaschen werden.
Organisation ist alles
Die Begünstigten werden angehalten, sich wenn möglich zu organisieren und die Hilfe kollektiv in Empfang zu nehmen - wo das nicht geht, wird angeliefert oder helfen örtliche Pfarreien aus. "Die Organisation der Hilfsempfänger war schon immer ein wichtiger Teil unserer Arbeit, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken", sagt Rojas.
Funktioniert hat das zum Beispiel bei Angelina Alvarez und Janeth Melchor. Die beiden Frauen kommen aus Patria Nueva, 26 Kilometer südöstlich von Puebla. 233 Familien sind in ihrem Bauerndorf bei der Tafel registriert. "Wir legen alle zusammen und mieten jeden Freitag einen Lieferwagen, um die Nahrungsmittel abzuholen", erzählt Alvarez, während sie Pakete auf die Ladefläche hievt. "Jetzt mit der Krise hat die Not zugenommen, aber in den Lieferwagen passt einfach nicht mehr rein", seufzt die 58-Jährige.
Wie lange reichen die Spenden noch?
Die Liste der Spender ist lang: Supermärkte, Großmärkte und Restaurants stehen an erster Stelle. Sie geben hauptsächlich verderbliche und kurz vor dem Ablaufdatum stehende Lebensmittel. Sach- und Geldspenden kommen auch von den in der Region ansässigen Industrie- und Fertigungsbetrieben, Universitäten oder dem lokalen Fußballclub, der gerade zu Besuch ist und einen Scheck überreicht. Doch die aufziehende Rezession setzt ein großes Fragzeichen hinter das Spendenaufkommen in den nächsten Jahren.
Bisher galt die Aufmerksamkeit der BAMX vor allem den acht Prozent der Menschen in Puebla, die in extremer Armut leben. In der Pandemie gehe es auch darum, das Abgleiten weiterer Familien zu verhindern, erzählt Rojas. Denn wer zu lange unter dem Existenzminimum lebt, der leidet gesundheitlich, dessen Kinder fallen in der Bildung zurück. So verwandelt sich die Armut nicht selten in eine dauerhafte Falle.