MH-17: Der russische Buk-Jäger aus York
16. Juli 2015Ein Rechercheseminar für junge Journalisten in einer osteuropäischen Hauptstadt. Neben einer Leinwand steht ein Mann, der aussieht wie ein Nerd: dünnes langes Gesicht, große schwarze Brille, schüchterner Blick. Sein Name: Iggy Ostanin. Der 26-jährige Jurastudent aus dem englischen York spricht mit leiser Stimme, doch die Menge hört gebannt zu. Bilder, die Ostanin auf die Leinwand projiziert, gingen vor einem Jahr um die Welt. Sie zeigen das Flugabwehrsystem vom Typ "Buk" (Buche), mit dem am 17. Juli 2014 die Boeing der "Malaysia Airlines" über der Ostukraine mutmaßlich abgeschossen wurde. Alle 298 Menschen an Bord des Fluges MH-17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur starben. Ostanin hat als erster Beweise dafür geliefert, dass Buk offenbar aus Russland kam. Seine Ermittlungen veröffentlichte Anfang September 2014 das britische Rechercheteam Bellingcat und sorgte damit weltweit für Schlagzeilen - und für viel Kritik aus Moskau. Inzwischen schreiben auch russische Medien, dass die Buk wohl aus Russland gekommen sei.
Zunächst stand Ostanin im Schatten von Bellingcat, sein Name tauchte selten auf. Inzwischen wird er immer öfter interviewt und zu Vorträgen weltweit eingeladen. Noch ist unklar, ob in den Abschlussberichten der Niederlande zum Fall MH-17 auch auf Ostanins Recherche Bezug genommen wird. Er selbst geht offenbar davon aus. "Ich bin stolz, dass ich zur Wahrheitsfindung beigetragen habe", sagte Ostanin der DW.
Leidenschaft für Internetrecherche
Wer ist der Mann, der Russland überführt haben will? Warum hat ausgerechnet ein unbekannter Student und Anfängerjournalist die brisante Recherche im Fall MH-17 geliefert, die auch ein renommiertes Medium schmücken würde?
"Ich komme ursprünglich aus Russland, meine Familie wanderte aus als ich neun Jahre alt war", erzählt Ostanin. Eigentlich heiße er Ignat, doch der russische Vorname sei ein Zungenbrecher für Briten gewesen. Deshalb nenne er sich Iggy. Ein klassischer Nerd, also ein intelligenter, aber sozial isolierter Computerfan, sei er nicht. Seine wahre Leidenschaft sei die Onlinerecherche. "Man muss schon ein bisschen Nerd sein, besessen sein, um Stunden im Internet zu verbringen und sich hunderte Bilder in sozialen Netzwerken anzuschauen", sagt er. "Ich mag es, zu überprüfen, ob das was Leute sagen, wirklich stimmt."
Nach der russischen Annexion der Krim und dem Beginn des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine geht Ostanin seiner Leidenschaft immer öfter nach. "Ich hatte Zeit und der Ukraine-Konflikt interessierte mich sehr", erzählt er. "Ich bin selbst Russe und hatte Zugang zu russischen Medien." Es fällt ihm auf, dass russische und westliche Medien "unterschiedliche Dinge" berichten: "Ich habe gesehen, dass vieles falsch war." In sozialen Netzwerken findet er offenbar Beweise für die Präsenz russischer Soldaten in der Ostukraine, was Moskau stets bestreitet. Doch abgesehen von Einträgen auf Onlineforen behält Ostanin die Ergebnisse seiner Recherchen zunächst für sich.
Durchbruch mit drittem Artikel
Sein Leben ändert sich am 17. Juli. Der Zufall will, dass der Student in den Niederlanden über den Absturz von MH-17 erfährt. Er erlebt ein Land in Schock, denn die meisten Opfer sind Holländer. "Ich erinnere mich, dass ich wirklich erschüttert war, ich war sehr aufgebracht und wütend", sagt Ostanin.
Im August schreibt er seinen ersten Artikel für das New Yorker Institut des modernen Russlands (IMR). Der Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation ist Pawel Chodorkowski, Sohn des ehemaligen Ölmagnats und Kreml-Kritikers Michail Chodorkowski. Im Artikel geht es um Igor Girkin, einen russischen Offizier, damals Verteidigungsminister der selbst ernannter "Donezker Volksrepublik". Kurze Zeit später, auch im August, schreibt Iggy Ostanin seinen zweiten Artikel. Anhand von sozialen Netzwerken will er die Präsenz russischer Spezialkräfte in der Ostukraine nachgewiesen haben. Er bietet Bellingcat den Artikel an und publiziert ihn unter dem Pseudonym "Magnitsky". So hieß ein russischer Anwalt, der Korruption anprangerte und vor einigen Jahren im Moskauer Gefängnis starb.
Als Ostanin Anfang September über die mögliche russische Spur im Fall MH-17 zu recherchieren beginnt, ahnt er noch nicht, welche Ausmaße seine Recherche annehmen wird. "Ich habe nicht gedacht, dass ich in der Lage sein werde, einen Beitrag zu der Beweissammlung zu leisten", sagte er. Er ging davon aus, erfahrene Journalisten hätten längst alles durchsucht. "Doch ich dachte, ein Versuch lohnt sich."
Mit Google, Instagram und YouTube
In nur vier Tagen findet Ostanin Indizien dafür, dass der mutmaßlich für den Abschuss verantwortliche Raketenwerfer Buk offenbar aus Russland, genauer – aus der 53. Luftabwehrbrigade in der Stadt Kursk stammen soll. Er benutzt dabei nur das Internet und soziale Netzwerke.
"Als Erstes habe ich bei Instagram nach einfachen Stichworten wie Buk und PWO (russische Abkürzung für Luftabwehr - Red.) gesucht", sagt Ostanin. Er findet Aufnahmen aus der Stadt Stary Oskol in Südrußland, die im Juni 2014 gemacht wurden: "Die Leute haben einen Konvoi von Buks fotografiert, der durch die Stadt fuhr." Ostanin sucht weiter und findet Videos und Bilder von dem gleichen Konvoi auf der Videoplattform YouTube und im russischen sozialen Netzwerk VKontakte. Er analysiert die Markierungen und vergleicht die gefundenen Aufnahmen mit dem Bild eines Buk auf einem Sattelschlepper, das von einem Reporter des französischen Printmagazins "Paris Match" in der Ostukraine gemacht und nach der MH-17-Katastrophe veröffentlicht wurde. Sein Fazit: Es sei derselbe Raketenwerfer.
Die letzte Entdeckung
Doch das ist nicht alles. Als Letztes versucht Ostanin herauszufinden, woher in Russland der Buk kam. Ihm fällt die Ortskennzahl 50 auf Nummernschildern im Konvoi auf. In einem russischen Forum sucht er nach Armeeeinheiten, die Buks haben und die Ortskennzahl 50 benutzen. Er findet zwei, doch eine scheidet aus. So bleibt nur eine Möglichkeit: Die Buk stamme mit hoher Wahrscheinlichkeit von der 53. Luftabwehrbrigade in Kursk, sagt der Journalist.
Ostanin bittet seine Rechercheergebnisse Bellingcat an und sie werden am 8. September 2014 veröffentlicht. Diesmal benutzt er seinen wahren Namen und nicht das Pseudonym.