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MH17: Wie viel Schuld trägt die Ukraine?

Roman Goncharenko17. Dezember 2014

Die Ukraine hätte den Abschuss des Fluges MH17 durch Luftraumsperrung verhindern können, meinen deutsche Opferfamilien und klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Eine DW-Spurensuche.

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Prorussischer Separatist an der MH17-Absturzstelle (Foto: REUTERS/Maxim Zmeyev)
Bild: Reuters

Wer mit ukrainischen Behörden über eine mögliche Mitschuld an der Katastrophe der malaysischen Boeing im Sommer sprechen möchte, beißt auf Granit. Die Flugsicherung verweist auf die Regierung, doch die will sich nicht äußern, das Präsidialamt ignoriert die Anfrage. Ein Mitarbeiter der Flugsicherung lehnt ein zugesagtes anonymes Interview in letzter Minute ab.

Nur einer ist bereit zu sprechen: Wolodymyr Hryhorezkij, ehemaliger Leiter der Flugsicherung im ostukrainischen Charkiw. "Im Fall der malaysischen Boeing gibt es und kann es keine Schuld der ukrainischen Flugsicherung geben", sagt Hryhorezkij der Deutschen Welle. "Woher hätte die Behörde, aber auch die Regierung wissen sollen, dass die Separatisten Waffen bekommen haben, die Flugzeuge in großer Höhe abschießen können?", fragt er. "Wir haben es nicht gewusst."

Schwere Vorwürfe gegen Kiew

Elmar Giemulla sieht das anders. Der Berliner Professor hilft drei von insgesamt vier deutschen Opferfamilien der MH17-Katastrophe. Sie wollen die Ukraine vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg verklagen. Als Entschädigung wird eine Million US-Dollar pro Opfer gefordert. "Ich habe zunächst nur eine Beschwerde eingereicht, weil ich erst das Echo abwarten wollte", teilte der Rechtsanwalt der DW mit. Als Experte beriet Giemulla in den 1990er Jahren die russische Regierung in Sachen Luftrecht.

"Der Tod ist durch pflichtwidriges Unterlassen der ukrainischen Regierung verursacht worden", heißt es in der Beschwerdeschrift, die der DW vorliegt. "Sie hat - entgegen ihrer Rechtspflicht - den Luftraum nicht bis zur Reiseflughöhe gesperrt." Die Ukraine habe dies getan, um "Überfluggebühren in Millionenhöhe" nicht zu verlieren. Mit einer Entscheidung darüber, ob der Fall angenommen wird, rechnet Giemulla in sechs Monaten. Der EGMR kann die Beschwerde ablehnen, weil sie nicht - wie vorgeschrieben - zunächst bei Gerichten des jeweiligen Landes eingereicht wurde.

Flugabwehrraketensystem Buk (Foto: Valeriy Melnikov/RIA Novosti)
Die MH17 soll von einer Rakete des Luftabwehrsystems "Buk-M" getroffen worden seinBild: picture-alliance/dpa

Fünf Monate sind vergangen, seit am 17. Juli eine Boeing 777 der Malaysia Airlines auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur über der abtrünnigen Region Donezk mutmaßlich abgeschossen wurde. Alle 298 Menschen an Bord starben. Die Ukraine gibt prorussischen Separatisten, aber auch Russland die Schuld daran. "Das Passagierflugzeug wurde von einer Rakete des Luftabwehrsystems "Buk-M" (Buche) getroffen, das samt Besatzung aus Russland gekommen war", sagte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko vergangene Woche in Australien. Russland und die Separatisten weisen solche Vorwürfe zurück. In einem Zwischenbericht des niederländischen Sicherheitsrates heißt es, MH17 sei "von vielen kleinen Objekten" durchlöchert worden.

Mögliche Fehleinschätzung der Fluglinien

Die Frage, warum ein Zivilflugzeug über Kampfgebiete flog, kam bereits in den ersten Stunden nach der Katastrophe auf. Es stellte sich als gängige Praxis heraus. Denn auch über Konfliktgebiete wie Irak oder Afghanistan fliegen zivile Maschinen. Internationale Luftfahrtorganisationen weisen jede Verantwortung von sich: Es sei Aufgabe der jeweiligen Staaten, Luftraum zu sperren. Das bestätigte der DW die europäische Luftraumaufsicht Eurocontrol.

Nach der russischen Annexion der ukrainischen Krim empfahlen Eurocontrol und andere Behörden, die Halbinsel zu umfliegen. Manche Fluggesellschaften änderten ihre Routen. Sie mieden die Krim, aber auch Teile der Ostukraine. Andere flogen weiter und sparten Zeit und Geld. Manche Fluggesellschaften schätzten die Lage offenbar falsch ein. "Die Ukraine ist keine Kriegszone, die Krim ist Kriegszone", zitierte die Nachrichtenagentur Reuters eine Sprecherin der thailändischen Fluglinie Thai Airways International. Juristisch gibt es keinen Krieg in der Ostukraine, die Regierung spricht lieber von einer "Anti-Terror-Operation".

Abschuss der Antonov als Alarmzeichen

Für den Opferanwalt Giemulla und manche Experten gab es jedoch ein Ereignis, das Kiew zu einer Luftraumsperrung hätte zwingen müssen. Am 14. Juli, also drei Tage vor der MH17-Katastrophe, wurde ein Transportflugzeug vom Typ Antonov-26 bei Luhansk in ca. 6500 Metern Höhe abgeschossen. Dies sei "nur mit schweren Flugabwehr-Raketensystemen möglich gewesen", sagte ein Experte des Stockholmer Instituts für Friedensforschung (SIPRI) in einem Interview gegenüber westlichen Medien. Zuvor gelang es den Separatisten immer wieder, mit einfachen schultergestützten Boden-Luft-Raketen ukrainische Kampfjets vom Himmel zu holen. Sie flogen niedriger als zivile Verkehrsflugzeuge.

Die Ukraine erkannte die neue Qualität. Der Vorfall ereignete sich aber so nah an der russischen Grenze, dass Kiew zunächst Moskau und erst dann die Separatisten verdächtigte. Die Antonov-26 sei "von einer deutlich stärkeren Waffe getroffen worden, die vermutlich vom Territorium der Russischen Föderation aus eingesetzt wurde", berichtete Valerij Heletej, damals Verteidigungsminister, dem ukrainischen Präsidenten.

Nach dem Abschuss der Antonov hob die ukrainische Flugsicherung die früher eingeführte Luftraumsperre von ca. 7925 auf 9750 Meter - und damit fast auf die Reiseflughöhe ziviler Maschinen - an. Der Berliner Rechtsanwalt Giemulla sieht darin den Beweis, dass die Ukraine über die Gefahr Bescheid wusste. MH17 wurde in einer Höhe von etwa 10.060 Metern abgeschossen. Westliche Luftfahrtexperten wie Professor Sigmar Stadlmeier von der Universität Linz in Österreich meinen, dass eine Sperre "ein wirksames Mittel gewesen wäre". "Gefährdungen durch Ereignisse, die die ukrainische Regierung nicht unter Kontrolle hatte", hätte man so abwehren können, sagte Stadlmeier der DW.

Entscheidende Stunden vor der Katastrophe

Manche Beobachter spekulieren, dass die Ukraine die technischen Aspekte falsch eingeschätzt haben könnte. Die Antonov-26 ist eine relativ langsame Propellermaschine, die mit ca. 440 Stundenkilometern ein leichtes Ziel ist. Ein moderner Passagierjet fliegt deutlich höher und doppelt so schnell. Er braucht wenige Minuten, um das Kampfgebiet in der Ostukraine zu überfliegen.

Vieles deutet darauf hin, dass die ukrainische Regierung unmittelbar vor der MH17-Katastrophe von den neuen Waffen der Separatisten wusste. "Wir haben Informationen, dass einige Geräte auf ukrainisches Gebiet gelangt sind, die Flugzeuge in großer Höhe abschießen können. Auch das System 'Buk' war darunter", sagte Andriy Lysenko, Sprecher des Sicherheitsrates, auf einer Pressekonferenz am 17. Juli in Kiew. "Wir verstehen, dass das schwere Waffen sind." Auch andere Quellen bestätigen das, darunter ein AP-Reporter.

Die Ukraine hätte demnach ein paar Stunden Zeit gehabt, um die MH17-Katastrophe zu verhindern. Vorausgesetzt, alle Behörden hätten die Gefahr schnell eingeschätzt und gehandelt.