Vom Rollstuhl in die Kletterwand
9. Mai 2020Noch sind alle Kletterhallen in Deutschland wegen der Corona-Pandemie geschlossen. "Ich trainiere viel zu Hause", sagt Michael Füchsle. Da muss dann auch schon mal der Esstisch für Kletterzüge herhalten. Der 53-Jährige hofft, dass die Corona-Krise bald vorübergeht und er das Exil in den eigenen vier Wänden in Bobingen nahe Augsburg verlassen kann. "Das Klettern ist mein Lebensinhalt", sagt Füchsle. "Ich kann nicht mehr ohne es leben. Neben meiner Freundin ist das Klettern das Wichtigste." Schließlich verdient Füchsle damit auch seinen Lebensunterhalt. "Ich kann keine großen Sprünge machen, aber es reicht zum Leben."
Füchsle ist kein gewöhnlicher Profi, sondern ein Paraclimber. Ein Kletterer mit Handicap, mit einem künstlichen Darmausgang, um genau zu sein, einem so genannten Stoma. Dazu gesellt sich noch eine Nervenerkrankung, die zu Taubheit und Lähmungserscheinungen an Armen und Beinen führen.
Die Nacht, die alles veränderte
In der Nacht vom 28. auf den 29. September 2005 änderte sich Füchsles Leben schlagartig. Zu diesem Zeitpunkt litt er bereits seit 20 Jahren an einer chronischen Darmentzündung, was ihn aber nicht daran hinderte, seiner Leidenschaft Klettern als Profi nachzugehen. Doch in jener Nacht wurden die Unterleibsschmerzen unerträglich. Der damals 38-Jährige suchte ein Krankenhaus auf - gerade noch rechtzeitig.
Die Ärzte diagnostizierten einen Darmdurchbruch, verbunden mit einer massiven Blutvergiftung. Füchsle wurde dreimal operiert und schwebte zwischen Leben und Tod. 16 Tage lang lag er im Koma und wurde künstlich beatmet. Als er aus dem Koma erwachte, hatte er nicht nur einen künstlichen Darmausgang, sondern war vom Hals abwärts gelähmt. Seine damalige Verlobte verließ ihn. Die Ärzte erklärten, er müsse den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen.
Der beschwerliche Weg zurück
Füchsle wollte sich mit diesem Schicksal nicht abfinden, sondern stürzte sich in Krankengymnastik und Krafttraining. Zwei Jahre nach der Operation konnte er immerhin schon wieder einige Meter laufen. "Mit Ehrgeiz und hartem Kämpfen schafft man alles", sagt Füchsle. "Das gehört zu meinem Wesen, sonst wäre ich aus dem Rollstuhl nicht mehr herausgekommen."
Seine neue Freundin Marion sorgte schließlich 2012 dafür, dass Füchsle wieder zum Klettern zurückfand. "Wir waren im Bayrischen Wald, da gab es eine kleine künstliche Kletterwand. Meine Freundin sagte: 'Probiere es doch mal!' Ich hatte sieben Jahre lang pausiert. Zwei Kletterzüge und der Unterarm war gleich wieder zu." Doch sein Ehrgeiz war wieder geweckt. 2015 bestritt er seinen ersten Kletterwettkampf im Paraclimbing.
"Ohne die Krankheit wäre ich kein Profi mehr"
Schon im Alter von 14 Jahren hatte Füchsle seinen Eltern eröffnet, dass er die Schule beenden und Profikletterer werden wolle. Sein erstes Geld verdiente er als Autor eines Kletterführers für die Felsen nahe Konstein im Naturpark Altmühltal. "Wenn meine Eltern mich nicht unterstützt hätten, wäre ich niemals über die Runden gekommen."
Doch mit der Zeit wurde er nicht nur ein immer besserer Kletterer, sondern konnte sich auch finanziell über Wasser halten: indem er Wettkämpfe bestritt, Vorträge hielt, Zeitschriftenartikel oder weitere Kletterführer schrieb. "Meine besten Zeiten hatte ich zwischen 18 und 30", sagt Füchsle. "Viel mehr an Schwierigkeitsgrad hätte ich nicht mehr erreichen können. Im Gegenteil. Wenn ich nicht krank geworden wäre, wäre ich mit Sicherheit kein Profikletterer mehr."
Rücktritt? Vielleicht
Im Paraclimbing jedoch war Füchsle konkurrenzfähig. Bei der Weltmeisterschaft 2016 in Paris wurde er in seiner Wettkampfklasse Fünfter, 2017 sogar Zweiter im Gesamtweltcup. Der Weltverband der Sportkletterer IFSC veranstaltet seit 14 Jahren auch Wettkämpfe für Kletterer mit Handicap. Die Zahl der Athleten nimmt seitdem ständig zu. Füchsle gehört zum 19-köpfigen Wettkampfkader des Deutschen Alpenvereins. Er trainiert fünf- bis sechsmal pro Woche, die Konkurrenz wird stärker: "Die Jungen rücken auch im Klettern mit Handicap nach. Von den meisten könnte ich ja der Vater sein."
Seitdem er das halbe Jahrhundert an Lebensjahren vollgemacht hat, liebäugelt Füchsle mit dem Rücktritt aus dem Wettkampfsport, so richtig überzeugt wirkt er aber nicht. "Ich sage eigentlich seit drei Jahren regelmäßig, dass ich aufhören will. Zu 80 Prozent wird 2020 wirklich mein letztes Wettkampfjahr sein."
Dass Sportklettern auf dem Programm der Olympischen Spiele 2021 in Tokio stehen wird, begrüßt Füchsle. "Es wäre gut, wenn auch das Klettern mit Handicap paralympisch würde", sagt der 53-Jährige. "Dann würde es bekannter, und damit kämen auch mehr Sponsorengelder herein." Schon jetzt, so Füchsle, gebe es ja einen Kletterboom, der allerdings auch Nachteile mit sich bringe: "Je mehr Leute in die Felsklettergebiete drängen, desto mehr Müll liegt auch dort herum."
Keine Expeditionen oder lange Routen
Füchsle klettert nämlich nicht nur in der Halle, sondern auch im Freien. "Für mich ist Felsklettern immer noch das Schönste, das es gibt", schwärmt er. Beim Klettern trägt er über dem künstlichen Darmausgang eine Bandage sowie einen Plastikschutz, weil der Klettergurt genau über das Stoma läuft. "Stark überhängende Felsen sollte ich meiden, weil es sein kann, dass sich beim übermäßigen Strecken das Stoma herausdrückt", erklärt Michael. "Dann wäre eine sofortige Notoperation nötig." Auch tief ins Sicherungsseil fallen sollte Füchsle nicht.
Er bewegt sich also auf dem schmalen Grat, den seine Behinderung vorgibt. "Expeditionen wären gesundheitlich nicht möglich, ebenso wenig wie Mehrseillängen-Routen [eine Seillänge misst 40 bis 60 Meter - Anm. d. Red.]", sagt der Paraclimber. "Ich habe ein Dünndarm-Stoma. Der Dünndarm arbeitet immer, also muss ich den Beutel alle halbe bis dreiviertel Stunde ausleeren."
Seine Motivation ist ungebrochen. "Ziele habe ich viele", verrät Michael Füchsle. "Irgendwann möchte ich noch einmal ein schweres Felsprojekt machen - zwei Wochen lang am Fels und dann eine Erstbegehung." Doch jetzt heißt es für ihn, wie für alle anderen Kletterer, erst mal warten: auf das Ende der Corona-Krise.