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Literatur

"Wir brauchen optimistische Zukunftsvisionen!"

Sabine Peschel
13. September 2017

Schriftsteller sollten so etwas wie die Forschungs- und Entwicklungsabteilung der menschlichen Imagination sein, findet der pakistanische Autor Moshin Hamid. Die DW sprach mit ihm über sein neues Buch "Exit West".

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Portrait of Mohsin Hamid 20 04 2017 PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY Copyright LeonardoxCend
Bild: Imago/L. Leemage

Der pakistanisch-britische Autor Mohsin Hamid ist ein intellektueller Vermittler zwischen Asien und dem Westen. Er wurde 1971 in Lahore (Pakistan) geboren, wuchs dort und in Kalifornien auf. Er studierte an der Harvard-School-of-Law und machte seinen Master-Abschluss an der Princeton University. Danach arbeitete er in New York als Unternehmensberater und Autor. Die Erfahrungen, die er als junger Pakistaner in den USA nach dem 11. September 2001 machen musste, verarbeitete er in seinem Roman "The Reluctant Fundamentalist", deutsch - "Der Fundamentalist, der keiner sein wollte". Das Buch wurde zum internationalen Bestseller; es wurde in 25 Sprachen übersetzt und gelangte auf die Shortlist für den Man Booker Prize 2007.

Hamid lebte danach als freiberuflicher Schriftsteller und Journalist in London (er arbeitete vor allem für den Guardian), seit 2009 in Lahore. Sein Roman "How to Get Filthy Rich in Rising Asia" (2013), dt. "So wirst du stinkreich im boomenden Asien", war 2014 für den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt in Berlin nominiert. Die deutsche Übersetzung seines im März im Original publizierten Romans "Exit West" erschien im August. Er steht jetzt als einer von sechs Titeln auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2017.

Deutsche Welle: "Exit West" ist eine Parabel auf eine Welt, in der die Türen offen stehen: Migration ist das zentrale Thema Ihres neuen Romans. Denken Sie, dass die Freiheit, sich niederzulassen, wo immer man will, ein menschliches Grundrecht sein sollte?

Mohsin Hamid: Ich denke, das sollte so sein. Wir leben jetzt in einem Zustand, in dem wir eine teilweise Gleichheit erreicht haben: Wir glauben, dass Mann und Frau gleichberechtigt sein sollten. Dass man die gleichen Rechte haben sollte, egal, ob man schwarz oder weiß ist, religiös oder atheistisch, homosexuell oder heterosexuell.

Buchcover Hamid Mohsin Exit West deutsch
Ein Roman über Migration

"Exit West": Humanistische Vision der Flüchtlingskrise

Wir sind jedoch noch nicht darauf eingestellt, dass man gleichberechtigt sein sollte - gleichgültig, ob man in Mogadischu oder Hamburg, New York oder Lahore geboren ist. Wir schrecken vor der Idee der Gleichberechtigung zurück, ganz unabhängig vom Geburtsort. Ich glaube nicht, dass das so bleiben kann. Mit der Zeit wird es akzeptiert werden, dass Menschen, ganz unabhängig davon, wo sie geboren wurden, das Recht haben, zu leben, wo sie wollen. Das kann in 100 Jahren soweit sein, oder vielleicht auch erst in 500.

Ich denke, das wird eine Befreiung für uns sein. Die Sklaverei wurde nicht nur abgeschafft, weil sie unmenschlich für die Sklaven war, die Sklaverei erniedrigte auch die Herren in ihrer Menschlichkeit. Und in diesem Sinne erniedrigt es die Menschen auch, wenn man in Ländern lebt, die vorgeben, für Gleichheit einzustehen, während sie sie Menschen, die woanders geboren wurden, grundsätzlich verweigern. Wir können also alle nur gewinnen. Aber das ist ein Prozess, der noch einige Generationen dauern wird.

Migrationsrecht für alle!

Wie sollte die Welt mit den 65 Millionen Migranten umgehen, die es aktuell gibt?

Wenn es um die Zukunft geht, stellt sich zunächst die Frage: Wie können wir alle einschließende, optimistische Zukunftsvisionen formulieren, die wir wünschenswert finden? Und die wir für tatsächlich realisierbar halten. Es ist sehr erstaunlich, dass solche Visionen in diesem Moment der Menschheitsgeschichte vollständig fehlen. Anstelle von optimistischen, alle einschließenden Zukunftsvisionen hören wir nur nostalgische Zukunftsvisionen. Beim "Islamischen Staat" geht es um die Wiedereinführung des Kalifats. Der Brexit bezweckt die Rückkehr zu einem Großbritannien vor der EU. Donald Trump möchte "America great again" machen, so großartig wie früher.

Wenn es uns nicht gelingt, neue optimistische Zukunftsvisionen zu formulieren, überlassen wir den Nostalgikern den Raum. Nostalgie ist gefährlich: Wir können die Zeit nicht zurückdrehen - und die Vergangenheit war nie so gut, wie wir dachten. Es ist wichtig, dass wir als Bürger und erst recht als Schriftsteller damit anfangen, uns Zukunftsmöglichkeiten auszumalen, die optimistisch und nicht rückwärtsgewandt sind. Wäre eine Welt der universellen Migration eine schreckliche Vorstellung für uns? Ja, aber eine Welt, in der unsere Enkel in Rio de Janeiro, Peking oder Lahore leben könnten, falls sie das wollten - würden sie die schrecklich finden? Vielleicht nicht. 

Menschheitsgeschichte ist Wanderungsgeschichte

Sie haben acht Jahre lang in London gelebt, Sie haben Ihre Frau dort kennengelernt, und Ihr erstes Kind wurde dort geboren. Was halten Sie vom Brexit?

Ich finde ihn absolut schrecklich. Ich glaube nicht, dass die EU als Institution perfekt ist, aber es gibt einige Aspekte, die ich wunderbar finde. Die Freizügigkeit der Menschen innerhalb der EU, den Abbau des Nationalismus - das sind wunderbare Ideen. Großbritannien hätte lieber daran mitarbeiten sollen, das Projekt EU zu verbessern, als sie zu verlassen. Und jetzt stellen wir fest, dass es beim Brexit ausschließlich um die Kontrolle der Zuwanderung geht. Der Brexit hat eine gefährliche Debatte darüber entfacht, wer eigentlich Brite sei.

In Ihrem Roman geht es um die Welt in ihrem gegenwärtigen Zustand. Warum haben Sie ihn in der Vergangenheitsform geschrieben?

Die Gegenwart, von der die Erzählung ausgeht, liegt 50 Jahre in der Zukunft: Wir blicken in der Geschichte von da aus zurück. Auch wenn es ein leicht zukunftsorientiertes Buch ist, habe ich es in der Vergangenheitsform geschrieben, weil ich glaube, dass die Geschichte der Wanderung die ursprüngliche Geschichte der Menschheit ist. Wir glauben, dass das etwas ist, was sich nur jetzt in unserer Gegenwart ereignet. Aber die menschliche Geschichte war immer eine Geschichte geografischer Wanderungen.

Erforderlich ist kritischer, radikaler Optimismus

"Exit West" endet optimistisch: Die Zukunft für die Flüchtlinge Nadia und Saeed erscheint hell. Warum habe Sie sich für ein so märchenhaftes Ende entschieden?

Buchcover Hamid Mohsin Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
Der Roman "Der Fundamentalist, der keiner sein wollte" wurde 2012 verfilmt

Der optimistische Schluss hat mit meinem Gefühl zu tun, dass es politisch absolut notwendig für uns ist, dass wir zum Optimismus finden. Die größte Gefahr, der wir uns aktuell gegenübersehen, ist ein pessimistisches Gefühl in Bezug auf die Zukunft. Denn wenn wir pessimistisch in die Zukunft blicken, fühlen wir uns hingezogen zu Scharlatanen, Chauvinisten, Befürwortern von Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit. Und zu Kräften, die uns in die Vergangenheit zurückbefördern möchten. Dagegen ist es wichtig, optimistische Aussichten zu haben. Und ich denke auch, dass es historisch und statistisch richtig ist, optimistisch zu sein. Die Welt wird in der Tat besser.

Ist es Aufgabe von Schriftstellern, Optimismus zu verbreiten?

Es ist wichtig, einen kritischen, radikalen Optimismus zu entwickeln. Was nicht das Gleiche ist, wie zu sagen, dass alles so, wie es läuft, in bester Ordnung sei. Dass wir uns alle entspannen und mit dem Status Quo arrangieren sollten. Sondern es geht darum, zu sagen, dass es absolut möglich ist, die Verhältnisse zu verbessern, wenn wir uns engagieren. Lange Zeit haben wir geglaubt, dass es Aufgabe des Journalismus sei, zu enthüllen, wie miserabel der Zustand der Welt sei. Wenn man geschrieben hätte, dass die Lage bestens wäre, dann hätte das bedeutet, dass die Mächtigen, die für den Status Quo verantwortlich waren, in ihrer Macht nur bestärkt worden wären.

Sagen, dass es gut werden kann

Aber jetzt leben wir in einer Welt, in der Status und die Macht der Mächtigen davon abhängen, dass sie uns erzählen, dass der Zustand katastrophal sei. Denken Sie an Donald Trump: Dass es das Phänomen Trump überhaupt geben konnte, liegt an der Ansicht, Amerika befände sich in einem katastrophalen Zustand. Wenn man also von schrecklichen Verhältnissen in den USA spricht, verringert man nicht die Macht von Menschen wie Trump, sondern festigt sie im Gegenteil.

Wir müssen neue Wege für unsere Kritik finden. Um nicht blindlings zu sagen, dass es gut steht um Amerika - selbstverständlich nicht. Aber um zu sagen, dass es absolut möglich ist für die USA, ihre wichtigsten Probleme zu lösen. Dass das für Deutschland ganz und gar im Bereich der Möglichkeiten liegt. Dass es für die Menschheit ganz und gar möglich ist, ihreProbleme zu lösen. Allerdings erfordert das eine ganz neue Herangehensweise.

Was die Schriftsteller leisten könnten, ist, als eine Art Forschungs- und Entwicklungsabteilung für die menschliche Vorstellungskraft zu funktionieren - dafür, was sein könnte. Und wenn man sich radikal vorstellt, was möglich wäre, dann trägt man zu diesem Prozess bei. Das ist nichts, wozu Schriftsteller verpflichtet wären, aber es ist eine Rolle, die Fiktion spielen könnte. Und ich denke, es ist eine wichtige Aufgabe.

Helfen, zum Schutz der eigenen Menschlichkeit

In Ihrem Roman fliehen Nadia und Saeed aus einer namenlos bleibenden Stadt auf die griechische Insel Mykonos. Dort begegnen sie dem Hass von Menschen, die gegen Einwanderung sind. Ist das Ihr Kommentar zu dem, was sich in Europa, speziell in Südeuropa, in Bezug auf Flüchtlinge ereignet?

Buchcover Hamid Mohsin So wirst du stinkreich im boomenden Asien
Mit der deutschen Übersetzung "So wirst du stinkreich im boomenden Asien" war Hamid in Deutschland auf der Shortlist für den Internationalen Literaturpreis

Den Leuten ist die Angst vor Flüchtlingen und Migranten eingeredet worden. Ihnen wurde erzählt, dass diese Menschen ihre eigene Art zu leben zerstören würden, dass sie Terrorismus, Krankheiten und Kriminalität mit sich brächten. Und niemand fragt: Was ist die Konsequenz für einen Menschen oder eine Gesellschaft, wenn man Menschen, die vom Tode bedroht sind, die Aufnahme verwehrt? Wenn in einem Schwimmbecken neben dir jemand ertrinkt und du zusiehst, ohne zu helfen, dann ist das nicht so, als würde mit dir in diesem Moment nichts passieren. Es geschieht etwas ganz Grundlegendes mit einem selbst. Die eigene Menschlichkeit ist für immer vermindert worden. Man hat einen großen Verlust erlitten.

Der Preis der Humanität

Und das scheint die eine Seite der Gleichung zu sein, über die wir nicht sprechen wollen. Vielleicht wollen wir keine Migranten oder Flüchtlinge haben. Wollen wir die Menschen sein, die sie einsperren? Die sie erschießen? Die sie ertrinken lassen? Und wenn wir zu solchen Menschen werden, wie werden wir uns dann zueinander verhalten? Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir mit Migranten und Flüchtlingen eine Beziehung pflegen könnten, in der wir ihnen fundamentale Menschenrechte vorenthalten - und uns dabei gleichzeitig die Fähigkeit bewahren, menschlich mit unseren Kindern, unseren Freunden und unseren Mitbürgern umzugehen. Wir verlieren diese Fähigkeit. Wenn wir dafür kämpfen, Migranten zu beschützen, dann nützt das nicht nur dem Schutz der Migranten - wir kämpfen damit auch dafür, unser eigenes Gefühl von Anstand zu bewahren. Und dieser Anstand ist enorm viel wert. Vielleicht ist er sogar den Terrorismus, die Krankheiten und die Kriminalität wert, die Migranten möglicherweise mit sich bringen.