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Literatur

Arundhati Roy: "Indien kolonialisiert sich selbst"

Sabine Peschel
9. September 2017

Die indische Autorin wurde 2014 vom Time Magazine zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt gezählt. Dass sie den Mächtigen etwas zu sagen hat, wurde bei ihrem Auftritt am Berliner Literaturfestival deutlich.

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Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy (Foto: Picture alliance/AP Photo/G. Onorati/Ansa)
Bild: picture-alliance/ANSA/G. Onorati

Die Autorin erscheint überraschend zart, als sie mit zwanzigminütiger Verspätung die Große Bühne des Berliner Festspielhauses betritt. Trotz der Verspätung wird Arundhati Roy von tausend Zuschauern gefeiert wie ein Star. Man weiß nicht recht, wem der Applaus gilt - der Schriftstellerin, der Aktivistin oder der Globalisierungsgegnerin.

Vielleicht wirkt die 55-Jährige auch nur besonders zierlich neben der großgewachsenen Gabriele von Arnim, die die Autorin an diesem Abend des Internationalen Literaturfestivals befragt, und der Schauspielerin Eva Mattes, die Passagen aus dem neuen Roman der indischen Schriftstellerin auf Deutsch vorträgt. Zwanzig Jahre musste das Lesepublikum nach Arundhati Roys überwältigendem Welterfolg "Der Gott der kleinen Dinge" auf einen zweiten Roman warten. "Das Ministerium des äußersten Glücks" heißt ihr im August auf Deutsch erschienener Roman, und die Frage drängt sich auf, weshalb sie sich so viel Zeit damit gelassen hat.

Internationales Literaturfestival Berlin mit Arundhati Roy (Foto: DW/S. Peschel)
Arundhati Roy zwischen Gabriele von Arnim und Eva Mattes beim Internationalen Literaturfestival BerlinBild: DW/S. Peschel

Zwanzig Jahre Leben und Kämpfen

"Kurz nachdem ich 'Der Gott der kleinen Dinge' geschrieben hatte, kam eine sehr fundamentalistische, Hindu-chauvinistische, rechte Regierung in Indien an die Macht, die erfolgreich Nukleartest durchführte", erzählt Roy. "Damals war mein Gesicht auf vielen Zeitschriften, und ich wurde so etwas wie das Gesicht dieses neuen, erstarkenden Indiens." Auf diese Weise wollte sie ihr Land nicht repräsentieren. Es habe sie abgestoßen, gefeiertes Symbol einer Nation zu werden, in der schreckliche Dinge geschähen. "Ein Land, in dem die meisten Menschen nicht lesen konnten und nicht genügend zu essen hatten. Ich wollte als Schriftstellerin in dieses Land eintauchen - und nicht jemand sein, die zwischen Bestsellerlisten und Literaturfestivals lebt."

Wenn Arundhati Roy spricht, erhält sie eine große Präsenz. Plötzlich wirkt sie kraftvoll und sehr klar, man erkennt: Hier ist eine Frau, die mit aller Entschiedenheit für das, woran sie glaubt, eintritt. Sie hat gegen den Bau von Staudämmen gekämpft, für die viele Millionen umgesiedelt werden sollten, gegen die zerstörerischen Folgen der Globalisierung, gegen die Nähe von Großpolitik und Großkonzernen, gegen den Hindu-Nationalismus und für die Unabhängigkeit Kaschmirs. Ist sie also eher eine Aktivistin als eine Schriftstellerin?

Politische Schriftsteller sind keine Aktivisten

Roy mag den Begriff nicht, hält ihn für ein vom Markt geschaffenes Etikett. "Was ist ein Schriftsteller? Man scheint die Definition immer enger zu fassen, und so ist jemand, der politisch schreibt plötzlich kein Schriftsteller mehr, sondern ein Aktivist. Ich finde das sehr traurig. Was geschieht hier, welcher Platz wird der Literatur hier zugewiesen?" Schreiben sei unweigerlich politisch, sagt Roy, man könne es sich nicht aussuchen. "Die Politik tritt dir die Tür ein."

Arundhati Roy bei einer Demonstration 2006 (Foto: AP)
Arundhati Roy 2006 als Aktivistin bei einer DemonstrationBild: AP

Arundhati Roy hat in ihr neues Buch all das aufgenommen, was sich in Indien in den letzten zwanzig Jahren ereignet hat, auch, wofür oder wogegen sie selber gekämpft hat. "Wie erzählt man eine zerbrochene Geschichte?" Nach mehr als 500 Seiten stellt der Roman diese Frage an seine Autorin. "Indem man sich langsam in alle verwandelt? Nein, indem man sich langsam in alles verwandelt." Roy schreibt über Machenschaften, über Massaker, Krieg und Mord, von der Brutalität der menschlichen Spezies, sie nennt die Dinge beim Namen. "Aber sie hat keinen 'indischen' Roman geschrieben, sie will mehr", glaubt die Moderatorin von Arnim, "sie will nichts schönreden und trotzdem schönschreiben, ihre Leser betören, sie aufstören."

Ein Buch wie die Luft zum Atmen

"Dieses Buch handelt von der Luft, die wir atmen", beschreibt es Roy selber. "Und diese Luft enthält Liebe und Vertrautheit und Kasten und Gender und Kindheit und Kaschmir und Politik und Konzerne und Medien - und alles. Ein Roman ist kein Budgetantrag einer NGO. Ein Roman muss alles umfassen." Es gab Rezipienten, die "Das Ministerium des äußersten Glücks" passagenweise als magischen Realismus gelesen haben. Eine der Hauptfiguren lebt nach dem Massaker von Gujarat auf dem Friedhof. Sie gehört zu Indiens "drittem Geschlecht" der Hijras, Menschen zwischen Mann und Frau, von denen es in Indien Millionen gibt. An der Schilderung dieses Lebens sei nichts Magisches. Von Indien und Kaschmir könne man nur fiktiv wahrheitsgetreu erzählen. "Die einzige Möglichkeit, zu versuchen die Wahrheit zu erzählen, ist durch die Fiktion. Fiktion ist Wahrheit."

Roys Roman ist absichtlich unübersichtlich, er schildert viele Grausamkeiten, und es gab Rezensenten, die sich davon abgestoßen fühlten. Doch wie sehr die Fiktion tatsächlich die indische Realität trifft, zeigte sich erst wenige Tage vor ihrem Berliner Auftritt. Arundhati Roy erinnert voller Trauer an ihre Freundin, die Journalistin Gauri Lankesh, die in Bangalore von Unbekannten erschossen worden war. Eine Autorin, die ähnliche Ansichten wie sie selbst vertreten habe.

"Die Situation für regierungskritische Intellektuelle ist extrem gefährlich"

Buchcover: "Das Ministerium des äußersten Glücks" von Arundhati Roy (Foto: S. FISCHER)
BuchcoverBild: S. FISCHER

"Tag für Tag werden Menschen gelyncht", berichtet die schmale Frau auf der Bühne. Menschen, von denen auch nur angenommen würde, dass sie Rindfleisch gegessen hätten, würden auf offener Straße vom Mob hingerichtet. Es sei gefährlich, sich dem entgegenzustellen. "Aber wenn wir das nicht tun, dann verlieren wir alles." Grenzenloser Hass spalte das Land unter dem hindu-nationalistischen Premierminister Narendra Modi, geschürt von Fake News und Internettrollen. "Die Situation für mich und andere Intellektuelle ist extrem gefährlich." In Indien gebe es eine Art Bürgerkrieg, während sich das Land selbst als Wirtschaftsgroßmacht darstelle. "Aber Indien kolonisiert sich selbst. Die Armee und paramilitärische Organisationen führen Krieg gegen die Ärmsten."

Das Publikum wirkt ein bisschen erschrocken am Ende des Abends. Wie sehr Indien von Gewalt erschüttert wird, scheint nicht vielen bewusst gewesen zu sein. Da heitert es auf, dass Arundhati Roy auch einen Abschnitt ihres Romans vortragen lässt, in dem es um Liebe geht - wenn auch um eine im Untergrund. Ein Roman sei schließlich keine Reportage.

Arundhati Roy: "Das Ministerium des äußersten Glücks", aus dem Englischen von Anette Grube, S. Fischer Verlag 2017, 560 Seiten