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Morales in Bedrängnis

Steffen Leidel 11. September 2006

Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ist für den linksgerichteten Präsidenten Boliviens, Evo Morales, die bislang wichtigste Bewährungsprobe. Der Konflikt mit den wohlhabenden Provinzen droht zu eskalieren.

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Evo Morales (r.) von der Volksgruppe der AymarasBild: AP

Bolivien sucht den Aufbruch und steckt doch fest in seiner Vergangenheit. Der Konflikt Hochland gegen Tiefland im ärmsten Land Südamerikas besteht nach wie vor und bekommt vor dem Hintergrund der verfassungsgebenden Versammlung neue Nahrung.

Der erste indigene Präsident Südamerikas Evo Morales hat seinem Land nichts weniger als eine Neugründung versprochen. Bolivien soll eine neue Verfassung bekommen, die von einer eigens gewählten Versammlung in einer Frist von einem Jahr erarbeitet werden soll. Festschreiben will er die nationale Souveränität über die Rohstoffe und die Legalisierung des Kokaanbaus. Außerdem soll die rassistische und soziale Diskriminierung der indigenen Bevölkerung aufgehoben werden.

Morales' Vorhaben, Bolivien in einen Sozialstaat zu verwandeln und für die Gleichheit aller Bolivianer zu sorgen stößt auf den erbitterten Widerstand der weißen Oberschicht, die vor allem in den östlichen Tiefland-Distrikten des Landes lebt. Anfang September rief die oppositionelle Partei Podemos von Jorge Quiroga, Morales wichtigster Rivale vor den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2005, zu einem 24-Stunden-Streik auf. Am Freitag (8.9.2006) legten Streiks und Proteste in den vier wohlhabensten Distrikten Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija das öffentliche Leben weitgehend lahm.

"Katastrophales Patt"

Die oppositionellen Bürgervereinigungen werfen Morales vor, er wolle "eine Diktatur" errichten. "Konkret geht es um die Frage, mit welcher Mehrheit über die einzelnen Artikel und Paragraphen der Versammlung abgestimmt werden soll", sagt Peter Strack, der mehr als zehn Jahre das Andenbüro der Hilfsorganisation Terre des Hommes in Bolivien geleitet hat. Die Partei von Präsident Evo Morales, MAS ("Bewegung zum Sozialismus"), fordere hierfür die einfache Mehrheit. Da sie mit 137 von 255 Abgeordneten in der Versammlung vertreten ist, könnte sie damit allein über Verfassungsprinzipien entscheiden. Die Opposition verlangt hingegen eine Zweidrittelmehrheit und droht, die Verhandlungen zu boykottieren.

Streik in Bolivien Demonstration gegen Evo Morales
Gewalttätige Auseinandersetzungen im reichsten Distrikt Santa CruzBild: AP

Bei den Demonstrationen kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. "Hier sind wieder einmal die Auswirkungen des 'katastrophalen Patts' in Bolivien zu spüren, von dem Vizepräsident Alvaro García Linera gesprochen hat und das auch nach dem überwältigenden Sieg von Morales weiter besteht", sagt Strack.

Einfach gesagt heißt das: Zwei Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber: auf der einen Seite die Anhänger Morales', die vor allem aus der verarmten indigenen Bevölkerung kommen und auf der anderen Seite, die reiche, wohlhabende weiße Oberschicht. Zahlenmäßig ist das Morales-Lager dominierend, er gewann die Wahlen mit über 50 Prozent. "Die wirtschaftliche Macht liegt aber bei der weißen Oberschicht", sagt Strack. Der reichste Distrikt Santa Cruz kommt laut der spanischen Zeitung "El País" für mehr als 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf, rund 44 Prozent der ausländischen Investitionen sind dort angesiedelt.

Rückkehr in die Vergangenheit

Die linke Presse kommentiert den aktuell sich zuspitzenden Streit ernüchtert. Die argentinische Tageszeitung "Pagina 12" schreibt: "Die Flitterwochen dauerten nur kurz. Bolivien ist offenbar wieder zur Routine der vergangenen Jahre zurückgekehrt". Juliana Ströbele-Gregor, die für die Freien Universität Berlin in mehreren Forschungsvorhaben über Bolivien gearbeitet hat, fürchtet, der Konflikt mit den oppositionellen Gruppen der reichen Distrikte könnte eskalieren: "Einige sind stark radikalisiert, bewaffnet und voller faschistischem Gedankengut."

Ströbele-Gregor und Strack stimmen darin überein, dass die Konfliktlinie zwischen Hochland und Tiefland nicht mehr so scharf zu ziehen ist wie früher. Es drohe auch Santa Cruz – der Hochburg der Opposition – ein innerer Konflikt. "Seit den 1960er Jahren ist eine große Zahl von Migranten aus dem Hochland nach Santa Cruz gekommen." Beinahe jeder zweite Bewohner sei indigener Herkunft. "Und die indigene Bevölkerung steht nach wie vor mehrheitlich hinter Morales", sagt Ströbele-Gregor.