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Politik

"Herz und Hirn sind noch im Gefängnis"

Pelin Ünker
20. September 2019

Der türkische Karikaturist Musa Kart ist eine Ikone - seiner Festnahme folgte eine Empörungswelle. Doch die Haftstrafe wurde überraschend aufgehoben. Im Exklusiv-Interview erzählt er der DW von seinen Erfahrungen.

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Der türkische Karikaturist Musa Kart
Musa Kart arbeitete jahrelang bei "Cumhuriyet"Bild: Privat

Er war der erste Karikaturist, der in der Türkei verhaftet wurde. Der langjährige Mitarbeiter der regierungskritischen Tageszeitung "Cumhuriyet" ist in der Türkei berühmt für seine täglich erscheinenden Karikaturen. Doch im Jahr 2016 war Schluss damit: Nach dem Putschversuch wurden ihm "Unterstützung der Terrororganisation PKK sowie der Gülen-Bewegung" zur Last gelegt, wie anderen Mitarbeitern der "Cumhuriyet" auch. Er wurde zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Musa Kart war neun Monate in Untersuchungshaft und 142 Tage im Gefängnis, bis ein Berufungsgericht das Urteil am 12. September 2019 aufhob. Im Exklusiv-Gespräch erzählt er der Deutschen Welle, was sein Fall über den Zustand der Pressefreiheit in der Türkei aussagt.

Deutsche Welle: Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei wurde ein Karikaturist verhaftet. Was können wir daraus lernen? 

Musa Kart: Karikaturen sind eine zeitgenössische Kunstform, die Freidenkertum und unabhängige Vernunft ausdrückt. Sie führt das Publikum raus aus seinen Denkmustern und Klischees. Wir sollten in unseren Schulen Karikatur lehren, um kritisches Denken zu fördern. Das haben wir natürlich nicht getan. Stattdessen haben wir ein juristisches System, das kritisches Denken eher unterdrückt.

Was ist Ihnen von Ihrem Prozess und Ihrem Gefängnisaufenthalt besonders in Erinnerung geblieben?

Es sind sehr viele Bilder, die sich bei mir im Gedächtnis eingebrannt haben. Einige dieser Bilder gehen mit poetischen Wörtern einher. Es fällt mir schwer, von diesen Bildern eines besonders hervorzuheben. Ich weiß genau, dass diese Bilder oder dieser Film mich mein ganzes Leben lang begleiten werden. Aber ein Bild hat mich bereits während meiner Haft besonders beschäftigt: wie  in dem Prozess alle Angeklagten (der "Cumhuriyet") voller Würde vor ihren Anklagestühlen standen.

Karikatur von Musa Kart
"Gerechtigkeit für 'Cumhuriyet', Gerechtigkeit für die Türkei!" Karikatur von Musa Kart zum "Cumhuriyet"-ProzessBild: Musa Kart

Können Sie uns erklären, wie das Gerichtsverfahren abgelaufen ist?

Das Gerichtsverfahren war leider einer politischen Einmischung ausgesetzt. Heute ist jeder davon überzeugt, dass der Putschversuch im Jahr 2016 instrumentalisiert wurde. Politiker, die ihre Kritiker mundtot machen wollten, mussten nun nicht mehr ihre Anklageschriften mit Sorgfalt und Ernsthaftigkeit vorbereiten. In der Verhaftungswelle nach dem Putschversuch wurden Autoren und Karikaturisten plötzlich mit Terroristen gleichgesetzt. Obwohl die meisten mit Gewalt nichts zu tun hatten!

Sie haben aus der Türkei und der ganzen Welt Solidarität erhalten. Wird sich diese Solidarität in Zukunft weiter auswirken? 

Vom Bürger auf der Straße bis zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofes - alle haben das Unrecht, das wir erlebt haben, verurteilt. In der Türkei haben 125.000 Rechtsanwälte und 74 Anwaltskammern ihre Solidarität mit einer Unterschriftenaktion zum Ausdruck gebracht. Dann schalteten sich Karikaturisten ein: Aus der ganzen Welt haben sie mit ihren Karikaturen nicht nur Menschen zum Lachen gebracht, sondern auch die richtigen Fragen gestellt. Diese tolle Solidarität hat den Blick für unrechtmäßige und unfaire Gerichtsverfahren geschärft.   

Wenn Sie das zeichnen würden, was sie selber erlebt haben, wie würde das aussehen?

Die größten Karikaturisten der Welt haben das gezeichnet, was mir passiert ist. Das ist schön. Das erinnert mich daran, dass ich ein Teil einer globalen Familie von Karikaturisten bin. Ich glaube nicht, dass es mir gelingen würde,  etwas Besseres zu zeichnen.

Wen werden Sie in ihrer ersten Karikatur nach der Freilassung zeichnen? Was sind ihre Zukunftspläne?

Ich weiß nicht, wen ich zuerst zeichnen soll, aber eine Sache ist klar: Ich werde weiterhin im Sinne der Republik, der Demokratie, des Laizismus, der Rechtsstaatlichkeit und für die Kultur der Toleranz zeichnen.

In der Türkei sitzen viele Journalisten und Intellektuelle in den Gefängnissen. Was ist Ihre Botschaft an Sie?

Ich bin zwar frei, aber ein Teil meines Herzens und meines Gehirns sind noch im Gefängnis gefangen. Es fühlt sich so an, als ob meine Haft so lange andauert, bis in diesem Land endlich wieder Gerechtigkeit eingekehrt ist.

Das Interview führte Pelin Ünker.