Mutige Mahnung zu grundlegenden Reformen
16. März 2005Der Bundespräsident ist in erster Linie Repräsentant aller Deutschen. Das verpflichtet auch den derzeitigen Amtsinhaber Horst Köhler zur Neutralität und zu größtmöglicher Zurückhaltung in jenen Fragen, die in der Tagespolitik zwischen den Parteien umstritten sind. Umso aufmerksamer hört man ihm zu, wenn er dennoch zu Kernfragen der deutschen Politik Stellung nimmt. Seine Analyse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland ist klar und überzeugend: Die Deutschen sind sich selber untreu geworden. Sie haben ihre einst leistungsfördernde Ordnung zersetzt. Das Resultat sind über fünf Millionen Arbeitslose und gewaltige Schulden.
Die Rezepte, die der Bundespräsident anbietet, sind in der einen oder anderen Form schon diskutiert worden. Das neue daran ist, dass der Bundespräsident sie sich zu Eigen macht. Er verlässt seine Rolle als neutraler Repräsentant und begibt sich in das Handgemenge des politischen Tageskampfes. Das ist nicht ungefährlich und deshalb mutig. Horst Köhler plädiert für die Senkung der Lohnnebenkosten, ja, gibt zu überlegen, ob die Kosten für die soziale Sicherung nicht gänzlich von den Arbeitsverhältnissen abgekoppelt werden sollten. Damit stellt er einen wichtigen Pfeiler des deutschen Sozialstaates in Frage.
Sein Ruf nach mehr Flexibilität in den Tarifverträgen deckt sich mit der Forderung der christdemokratischen Opposition. Auch die Union möchte den Arbeitgebern und den Betriebsräten vor Ort die Möglichkeit in die Hand geben, so genannte betriebliche Bündnisse für Arbeit zu schaffen, das heißt die Arbeitszeit und die Löhne den jeweiligen Erfordernissen des Betriebes anzupassen und so die Flächentarifverträge aufzulockern. Das gleiche gilt für den Ratschlag des Bundespräsidenten für eine umfassende Steuerreform. Auch hier wiederholt er Forderungen der Opposition, die inzwischen allerdings auch Fürsprecher im Lager der rot-grünen Koalition gefunden haben.
Auch wenn es ursprünglich keine Absicht war, die Rede des Bundespräsidenten wenige Tage vor dem Treffen zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und den Führern der christdemokratischen Opposition zu platzieren - in der öffentlichen Wirkung wird dieser Bezug dennoch eine wichtige Rolle spielen. Horst Köhler hat mit seiner mutigen Intervention deutlich gemacht, was er - und mit ihm sicherlich wichtige Teile der deutschen Öffentlichkeit - von den politisch Verantwortlichen erwarten: dass diese über die Schatten ihrer bisherigen Positionen springen und sich zu grundlegenden Reformschritten bereit erklären.
Das gilt für die Neuordnung der sozialen Sicherungssysteme und eine Steuerreform ebenso wie den Abschied von lieb gewordenen Subventionen und der Konzentration auf die Förderung von Bildung und Forschung. Wenn sich am Donnerstag (16.3.2005) Kanzler und Opposition treffen, wird man ablesen können, wie einflussreich mahnende Worte des Bundespräsidenten im politischen Tagesgeschäft sein können.