Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs
14. Oktober 2004Der jüngste Bruder, Agnes (Martin Weiß), war früher ein Mann. Aus Liebe zu Henry, einem New Yorker Modeschöpfer, hat er sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen. Doch Henry ist längst aus seinem Leben verschwunden. Agnes lässt sich seither als Go-Go-Tänzerin durchs Nachtleben treiben. Als ihre große Liebe eines Tages wieder in die Stadt kommt, ist es für einen Neuanfang bereits zu spät. Agnes ist unheilbar krank.
Tragikomische Figuren
Der mittlere Bruder, Hans-Jörg (Moritz Bleibtreu), ist verklemmt und sexbesessen. Er arbeitet in einer Uni-Bibliothek, kann sich wegen der unzähligen "bauchfreien" Studentinnen, die dort herumlaufen, allerdings kaum auf seine Arbeit konzentrieren. Hormongesteuert schleicht er sich immer wieder in die Damentoilette, um durch kleine Löcher zu spannen. Schließlich landet er bei den Anonymen Sexsüchtigen. Hier lernt er Manni Moneto kennen, der ihn als Darsteller im Porno-Geschäft unterbringt. Bei einem Dreh trifft Hans-Jörg auf seine vollbusige Traumfrau.
Der älteste Bruder, Werner (Herbert Knaup), ist ein dynamischer Politkarrierist. Nach außen hat er alles erreicht: eine attraktive Frau (Katja Riemann), zwei Kinder, Hund und tolle Villa. Doch die Fassade bröckelt: Seine Frau will schon lange nichts mehr von ihm wissen, und sein pubertierender Sohn (Tom Schilling) nervt ihn, weil er den ganzen Tag mit einer Video-Kamera hinter ihm her rennt. Selbst Werners Grillwürstchen werden von den Familienmitgliedern mit verächtlichen Blicken verschmäht. Auch sonst wird Werner kaum noch ernst genommen. Sein bedingungsloser Einsatz für die Einführung des europäischen Dosenpfandes (er hat einen riesigen Bilderrahmen aus Dosen an die Wand gehängt) wird von seinen Grünen-Parteifreunden zusehends belächelt.
"Familien sagen viel über die Gesellschaft aus"
Drei Brüder mit drei verschiedenen Schicksalen. Die Geschwister verbindet nicht viel: ihre Suche nach Zuneigung, ihre Gene und die Hassliebe auf den Mann, der ihre Leben entscheidend geprägt hat - ihr exzentrischer Vater. Auf einer gemeinsamen Autofahrt kommt es zum Eklat: Hans-Jörg bringt das Thema Missbrauch in der Kindheit zur Sprache. Kurz danach holt einer der Brüder zum großen Befreiungsschlag aus.
Mit dem Schwarzweißfilm "Die Unberührbare", ein Psychogramm des Selbstmords seiner Mutter Gisela Elsner, gelingt dem Regisseur Oskar Roehler 2000 der Durchbruch. Roehler gilt seither als der kühnste unter den deutschen Filmmemachern. Er arbeitet mit bizarren, oft überhöhten Bildern. Tragik und Komik liegen in seinen Filmen immer eng beieinander.
In "Agnes und seine Brüder" nimmt sich Roehler - wie schon in weiteren Filmen zuvor - dem Thema "Familie" an. Er sagt: "Ich gehe in meinen Filmen durch ganze Generationen - sowohl in 'Agnes' als auch damals in 'Die Unberührbare'. Da tauchen Söhne auf und Väter, und es geht immer um das Thema Herkunft. Ich will ein komplexes Bild der Gesellschaft entwerfen, was eignet sich da besser, als eine ganz normale kaputte Familie."
Deutsche Starbesetzung
Mit "Oskar und seine Brüder" legt Oskar Roehler ein famos gespieltes, irgendwo zwischen Fassbinder, Almodovar, David Fincher ("Fight Club") und Sam Mendes ("American Beauty") liegendes Drama vor. Sein hochkarätiges Schauspieler-Ensemble hat Roehler ins Extrem getrieben. Moritz Bleibtreu spielt Hans-Jörg mit bewundernswerter Intensität, Werner ist mit Herbert Knaup ideal besetzt und liefert sich mit "Ehefrau" Katja Riemann einen schauspielerischen Zweikampf der Extraklasse. Und Neuentdeckung Martin Weiß, der Agnes grandios verkörpert, dürfte nach diesem Film nicht länger ein Unbekannter sein.
Wer nach autobiografischen Bezügen sucht, wird in Roehlers Film nicht fündig werden. "Die Biografien der Brüder kommen vielmehr aus meinem Umfeld. Oder es sind Biografien aus Büchern, die ich gelesen habe", erklärt der Regisseur. "Agnes und seine Brüder" ist bestimmt nichts für jedermann - so wie Roehler auch nicht jedermanns Darling ist - aber er wird sein Publikum finden.
"Agnes und seine Brüder", Deutschland 2004, 115 Minuten, Buch und Regie: Oskar Roehler, Kinostart in Deutschland: 14. Oktober 2004.