Auf dem Stachus
10. April 2014Manchmal kämpfen auch Umweltschützer mit den Naturgewalten. "Das sieht wohl ziemlich lustig aus", ruft ein Greenpeace-Aktivist säuerlich lächelnd den ersten Passanten zu, die ihn amüsiert beobachten, wie er ein Transparent gegen Gentechnik aufzustellen versucht. Es ist neun Uhr morgens und über den Stachus weht an diesem Samstag ein heftiger Wind, der das Transparent in ein unberechenbar über den Platz flatterndes Segel verwandelt. Da haben es die vier bibeltreuen Christen nebenan einfacher. Ein frommer Spruch auf dem T-Shirt und eine Erbauungsschrift in der Hand sind bei diesem Wetter die bessere Wahl.
Demonstriert wird hier immer
Die Umweltschützer und Evangelikalen sind trotz der frühen Stunde nicht allein, eine Gemüseverkäuferin und ein Losverkäufer haben ihnen gegenüber bereits geöffnet und warten an ihren Holzständen auf Kunden. Das seltsame Quartett bildet ein unübersehbares Spalier für jeden, der hier passieren muss. "Das wird hier noch enger", meint die Gemüseverkäuferin, "irgendwelche Tierschützer sind samstags eigentlich auch immer da".
Denn sie alle wissen, am Stachus bekommt man in München die meiste Aufmerksamkeit. Keine Stunde später, wenn die Kaufhäuser öffnen, kommen sie, die Münchener, die Besucher aus dem Umland und die Touristen. Ihnen bleibt auch keine Wahl. Am Stachus treffen 13 Straßenbahnlinien auf acht S-Bahn- und zwei U-Bahn-Linien. Bis zu 50.000 Passanten und Touristen pro Stunde wuseln sich an einem normalen Samstagvormittag durch die drei Stockwerke des unterirdischen Bahnhofs mit den Shopping-Passagen, die verstopften Rolltreppen hoch, quer über die Straßenbahngleise und die sechs Straßenspuren des Altstadtrings, der hier den Stachus teilt, und strömen zum Karlstor, dem nur 15 Meter breiten Nadelöhr in die Münchener Innenstadt. Von hier aus schieben sie sich weiter, entweder in die Shoppingmeile Neuhauser Straße oder weiter zu den touristischen Highlights der Stadt, zum Marienplatz, Hofbräuhaus oder Viktualienmarkt. In den 1950er Jahren galt der Stachus als verkehrsreichster Platz Deutschlands, manche Quellen sagen: Europas.
Man sieht sich am Stachus
Dass dieser lärmende Platz bei den Münchenern dennoch recht beliebt ist, verdankt er einer schlichten städteplanerischen Entscheidung aus den frühen 1970er Jahren. Auf dem Platz vor dem Rondell mit dem Karlstor wurde ein flacher runder Brunnen errichtet, an dessen Rand man gut verweilen kann. Der perfekte Ort, um sich zu verabreden. "Das geht hier ja zu wie am Stachus", ist eine bekannte Münchener Redensart. "Wir treffen uns am Stachus", eine andere. In der Weihnachtszeit wird der Brunnen mit einer Mini-Schlittschuhbahn überbaut, im Sommer häufig mit einer Bühne, auf der Konzerte stattfinden.
Mit dem Brunnen fand die 200-jährige Baugeschichte des Platzes ihr vorläufig glückliches Ende. 1791 errichtete der Stadtplaner Graf Rumford, der auch den Englischen Garten schuf, an Stelle des alten Neuhauser Tores das breitere Karlstor als zeitgemäßen Eingang zur Innenstadt. Graf Rumfords Auftraggeber, der bayerische Kurfürst Karl Theodor wünschte sich etwas Repräsentatives, ein Prachttor mit Vorplatz für imposante Aufmärsche. Und schon damals galt, wer zahlt, bestimmt den Namen - Karlstor, Karlsplatz. Bekommen hat der Kurfürst das Karlstor - und den Stachus. Denn der Name Karlsplatz hat sich in München nie durchgesetzt, obwohl er bis heute offiziell so bezeichnet wird. Weshalb aber Stachus, ein selbst für Deutsche exotisch klingender Name?
Der Münchener Autor Karl Stankiewitz hat dem Platz ein ganzes Buch gewidmet, "Der Stachus - Wo München modern wurde". Aber auch er rätselt, wie es zu diesem Namen kam. Eine Erklärung geht weit zurück in die Münchener Geschichte. Demnach hätten hier vor dem Stadttor die sogenannten Stachelschützen mit ihren Armbrusten ihre Schießstätte gehabt. Andere Quellen vermuten einen populären Gastwirt mit Namen Eustachius Förderl als Urheber.
Stachelschützen? Eustachius? Fest steht: Am Stachus liefen die Dinge anders als vom Kurfürsten geplant. Die neue Freiheit außerhalb der Stadtmauern nutzten die Münchener auf ihre Weise. Kein Exerzierplatz, sondern neue Wohnungen entstanden. Mit Einweihung des Hauptbahnhofs, nur 500 Meter vom Stachus entfernt, kamen 1839 die Hotels. Und mit der Motorisierung Deutschlands im 20. Jahrhundert die großen Kaufhäuser. Dass München eine der reichsten Städte Deutschlands ist, kann jeder an einem Samstagmittag am Stachus-Brunnen sitzend selbst erleben. Menschenmassen, wo man hinschaut. Vollgepackte Einkaufstüten. Dazwischen fotografierende Touristen aus aller Welt, die gerade am Karlstor den Eingang in das "alte" München entdecken.
Ausgangspunkt für Nachtschwärmer
Mit Einbruch der Dunkelheit verändert der Platz sein Gesicht. Die Kaufhäuser auf der Neuhauser Straße sind geschlossen, die ersten Nachtschwärmer beleben den Stachus. Meist männliche Fußballfans, Bayern München-Anhänger in ihren roten Fan-Trikots, verschaffen sich in Kleingruppen lautstark Gehör. Im Kontrast dazu stehen modisch gekleidete Jugendliche cool am Brunnen und nesteln an ihren Smartphones, der Abend will geplant sein.
Während in der Münchener Innenstadt beim Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg strenge Bauauflagen und Konzessionsvorgaben eingehalten werden mussten, konnte sich das Münchener Nachtleben auf der anderen Seite des Stachus freier entfalten. In den 1950er Jahren entstanden hier die großen Kinosäle der Stadt. Kurz danach kamen die ersten Clubs und Diskotheken dazu. Kein Wunder, dass die McDonalds-Filiale am Stachus mit zweieinhalb Millionen Gästen die umsatzstärkste Deutschlands ist. "Partybanane" haben die Münchener Polizisten die vom Stachus abgehende, leicht gekrümmte Sonnenstraße genannt, an der sich heute Clubs und Cafés reihen. Ein Magnet auch fürs ganze Umland Münchens, das hier jedes Wochenende hoch und runter flaniert.
Mittlerweile ist es Mitternacht. Am Hauptbahnhof ist wieder eine Gruppe Feierwütiger von Auswärts angekommen, die Frage ist vorhersehbar, die Antwort einfach. "Wo geht es hier zum Stachus?" "Immer geradeaus, kann man nicht verfehlen!"