Boliviens Linke steht vor Herausforderungen
20. Oktober 2020Boliviens Sozialisten haben bei den Präsidentschaftswahlen ein fulminantes Comeback hingelegt. Nach Angaben mehrerer nicht offizieller Nachwahlbefragungen kam der 57-Jährige Linkskandidat Luis Arce auf knapp 53 Prozent der Stimmen. Der konservative Ex-Präsident Carlos Mesa käme demnach auf 31,5 Prozent, der rechtskonservative Anwärter Luis Camacho auf rund 14 Prozent der Stimmen. Ein offizielles Ergebnis wird erst in einigen Tagen erwartet.
"Wenn sich die absolute Mehrheit für Luis Arce (MAS) bestätigt, werden wir nach einem langen Jahr der Konflikte, Krisen und Improvisation nun endlich eine Regierung haben, die in den Urnen legitimiert wurde. Das ist eine positive Nachricht für Bolivien", sagt die Soziologin und Politologin Maria Teresa Zegada von der Universität Cochabamba der DW.
Nach der letzten Präsidentenwahl vor knapp einem Jahr war Bolivien von Unruhen erschüttert worden. Die Opposition hatte dem damaligen Präsidenten Evo Morales Wahlbetrug vorgeworfen, hunderttausende Menschen gingen auf die Straße. Eine Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten empfahl Neuwahlen. Morales trat ab und ging zunächst nach Mexiko, später nach Argentinien ins Exil. Der damalige Wirtschaftsminister Arce gilt als politischer Ziehsohn von Morales. Dieser hatte Arce aus dem Exil zum Kandidaten gekürt - gegen den Widerstand der Parteibasis.
Brandreden sind kein Programm
Das jetzige Wahlergebnis habe gezeigt, dass die MAS für einen Großteil der Bolivianer weiterhin eine attraktive politische Option darstellt - auch nach dem Abtritt von Morales, sagt Zegada. "Das liegt auch daran, dass die bürgerliche Opposition nicht in der Lage war, ein klares Programm mit einem attraktiven Kandidaten und einer konsolidierten Partei zu präsentieren."
"Es reicht nicht, Brandreden zu schwingen", sagt sie unter Anspielung auf den Rechtspopulisten Camacho, der zwar in seiner Hochburg Santa Cruz vorne lag, aber im Rest des Landes nur wenig Stimmen holte und letztlich auf Platz drei landete. Auch die Spaltung der MAS-Gegner in zwei Lager kostete Stimmen. Allerdings wären selbst zusammengerechnet der zweitplatzierte Mesa und der drittplatzierte Camacho nicht auf den Stimmenanteil der MAS gekommen, gibt die Universitätsprofessorin zu bedenken.
Neue Mittelschicht, das Zünglein an der Waage
Für Carlos Nunez, Ökonom und politischer Berater aus der Wirtschaftsmetropole Santa Cruz, hat vor allem die neue Mittelschicht der MAS zu mehr Stimmen verholfen. Denn die hatte wirtschaftlich von den Regierungsjahren der linksgerichteten Partei profitiert. In den 14 Jahren stieg das Bruttoinlandsprodukt von neun auf 40 Milliarden US-Dollar, das Pro-Kopf-Einkommen verdreifachte sich, die Währung war stabil und die extreme Armut sank von 38 auf 16 Prozent.
Der Wunsch nach strukturellen Reformen im Gesundheits- und Bildungssektor und der Ärger über die zunehmende Vetternwirtschaft in der MAS entfremdete diese Gruppe in den vergangenen Jahren jedoch vom Sozialismus. "Pandemie und Wirtschaftskrise haben sie zurück in die Arme der MAS getrieben", so Nunez im Gespräch mit der DW.
Dennoch sei dies kein Blankoscheck. "Das nur auf der Ausbeutung von Rohstoffen basierende Wirtschaftsmodell der MAS hat keine Zukunft", warnt er. Auch der von Morales geprägte autoritäre Regierungsstil sei nicht mehr zeitgemäß. "Arce muss nun beweisen, dass er die MAS erneuern kann", sagt er.
Demokratische Herausforderungen
Das freilich ist nicht einfach, zumal Morales im argentinischen Exil bereits seine Rückkehr vorbereitet. Konflikte mit Arce und vor allem dessen Vizepräsidenten David Choquehuanca, der sich schon vor Jahren von Morales distanzierte, sind vorprogrammiert. Das Regieren wird für Arce unter diesen Umständen zum Drahtseilakt. Denn auch im Kongress hat die MAS keine Zweidrittel-Mehrheit mehr, muss also für viele Gesetze Bündnisse suchen.
Darin sieht Jose Antonio Quiroga, Kolumnist und Herausgeber des Verlages Plural, die größte Gefahr für die Demokratie: "Sowohl die MAS als auch die Tieflandelite um Camacho sind nur dann demokratisch, wenn es ihren Interessen zupass kommt", warnt er.
Trotz ideologischer Differenzen hätten die beiden schon in der Vergangenheit immer wieder paktiert - hauptsächlich auf Kosten der Umwelt. So seien die Ausweitung von Gensoja und Brandrodungen ein Zugeständnis der MAS an die Agroindustrie in Santa Cruz gewesen. "Eine Neuauflage dieses Paktes könnte die demokratische Mitte weiter schwächen", warnt Quiroga.