Über Rassismus reden
4. Juni 2013Morde und Anschläge verübten die Mitglieder des "Nationalsozialistischen Untergrunds" zur "Verwirklichung ihrer rassistischen Ziele, nämlich Menschen allein wegen ihrer nichtdeutschen Herkunft zu töten", so lautet die Anklage im NSU-Prozess. Ermittler taten sich offenbar lange schwer, nach den Morden an neun Männern mit türkischen und griechischen Wurzeln in diese Richtung zu denken. Das legen Aussagen der Opferangehörigen ebenso nahe wie das, was über die Fahndung bekannt wurde.
Carsten Ilius, Nebenklage-Anwalt beim NSU-Prozess, hat den Eindruck, "dass die Ermittlungen einseitig geführt wurden". Erst sehr spät sei ein rassistisches Motiv der Täter verfolgt worden, und das "extrem oberflächlich". Im Interview mit der DW erinnert er an eine Zeugenaussage aus Dortmund, wo am 4. April 2006 Mehmet Kubasik, der Ehemann seiner Mandantin Elif Kubasik, erschossen wurde. Eine Zeugin, die zwei Männer beobachtet hatte, habe ausgesagt, "der eine der beiden sah wie ein Nazi aus, hatte einen bösen, stechenden Blick". Diese Aussage, so Ilius, habe die Dortmunder Mordkommission in ihrem Abschlussbericht an die Sonderkommission für die Mordserie nicht erwähnt. Das Zitat sei zwar in den Akten zu finden gewesen, doch der Nazi-Hinweis im Bericht, der ein Fingerzeig gewesen wäre, habe gefehlt.
Nicht nur Pannen, sondern Zeichen für "strukturellen Rassismus"
Zentrale These der Polizei sei gewesen, sagt der Anwalt, "dass die Opfer in kriminelle Machenschaften verwickelt sein könnten", auch wenn es dafür keine Anhaltspunkte gegeben habe. Im Umfeld der Familien habe man bis ins kleinste Detail ermittelt, von aufwendigen Drogen-Suchaktionen bei Familie Kubasik bis hin zu Befragungen in türkischen Dörfern. Die Koordination der Ermittler bei Fragen zu den Opfern habe auch mit türkischen Kollegen bestens funktioniert. Carsten Ilius sieht deshalb als Grund für die jahrelange erfolglose Fahndung nicht nur Pannen. Wie die Ermittlungen angelegt waren, wie sogenanntes "Erfahrungswissen" über Migranten angewendet wurde, deutet er als Zeichen für "strukturellen Rassismus".
In einer polizeilichen Analyse "der bundesweiten Serie von Tötungsdelikten an Kleingewerbetreibenden mit Migrationshintergrund" wurde Anfang 2007 so argumentiert: "Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist." Deuten muss man das wohl als "Deutsche können nicht so brutale Serienmörder sein", denn man tippte auf eine "Gruppierung im ost- bzw. südosteuropäischen Raum (nicht europäisch westlicher Hintergrund)", wie es wörtlich in der Fallanalyse heißt.
Rassistische Bilder über "die Anderen"
"Diese Aussagen sind haarsträubend", empört sich Esin Erman. "Ich weiß nicht, in welcher Ecke der Welt Mord nicht tabuisiert sein soll." Erman ist Psychotherapeutin in Berlin und betreut vor allem türkischstämmige Klientinnen und Klienten. Sie kritisiert das "Erfahrungswissen", mit dem die Ermittler ihre Untersuchungen gegen die Mordopfer begründeten als "rassistische Bilder und Konstruktionen über die Anderen", als die man die betroffenen Familien wahrnahm. Deren Unschuld wurde lange bezweifelt.
Als Beispiel nennt Erman den Drogenverdacht nach dem Mord an Enver Simsek am 9. September 2000, wie ihn auch das Buch seiner Tochter Semiya dokumentiert: Die Ermittler übernahmen die Aussage eines inhaftierten Drogenhändlers. Der sagte, er habe 1997 eine Kurierfahrt im Lastwagen von Enver Simsek gemacht, einem Lkw mit der Aufschrift "Simsek Blumen" und Schubladen im Laderaum. Sie hätten zu dritt vorne gesessen, berichtete der Zeuge, Simsek am Steuer, er ganz rechts, ein anderer Dealer in der Mitte.
Erst nach fünf Jahren prüfte man die Aussagen des Drogenhändlers. Dabei kam heraus: Simseks Lkw hatte weder die Aufschrift noch die Schubladen im Laderaum, vorne gab es nur zwei Sitze. Wo der dritte Mann gesessen haben soll, war die Gangschaltung. Der Zeuge hatte offensichtlich gelogen, aber die Ermittler stützten jahrelang ihren Drogenverdacht gegen das Mordopfer auf dessen Aussage. Der Familie glaubte man nicht.
Miet-Klausel gegen "die ganze Sippschaft"
"Wenn ich Rassismus erfahre, wird das überhaupt ernst genommen? Kann mir, kann meinen Kindern Ähnliches passieren?" Solche Fragen stellten sich viele ihrer Klientinnen nicht erst seit Aufdeckung der NSU-Morde, berichtet Psychotherapeutin Erman. Sie erinnerten sich intensiv an den Beginn der 1990er Jahre, als zur Zeit der Asyldebatte in Deutschland allein bei Brandanschlägen auf türkischstämmige Familien in Mölln und Solingen acht Menschen getötet wurden. Die NSU-Morde wirkten bei vielen, so beobachtete Erman, als "bittere Bestätigung dessen, was man schon fast geahnt hatte".
Auch unterhalb der Schwelle von Gewalt gehörten rassistische Diskriminierungen für viele Menschen mit Migrationsgeschichte zum Alltag, sagt Esin Erman, in Schule und Beruf, bei Vermietern oder Behörden. Sie selbst kam mit drei Jahren nach Deutschland, hatte später hervorragende Schulnoten, bekam aber keine Empfehlung für das Gymnasium. Studien hätten gezeigt, dass Kinder mit Migrationshintergrund "systematisch weniger intelligent eingeschätzt werden als herkunftsdeutsche Schülerinnen und Schüler". Erman schaffte es trotzdem, absolvierte ihr Studium mit Bestnoten. Als sie eine Wohnung mieten wollte, sollte sie eine Klausel unterschreiben, "welche mir verbietet, meine Familie bei mir übernachten und kochen zu lassen".
Die Vermieterin ging davon aus, sagt Esin Erman, "dass die Türken immer in Großfamilien und Clans leben und sich 'die ganze Sippschaft' niederlässt und dann stinkt das ganze Haus nach Knoblauch und Hammelfleisch". Sie weigerte sich, die Klausel zu unterschreiben. "Das kann für mich nichts anderes sein als Rassismus", sagt Erman, "denn die Vermieterin kennt mich nicht, weiß nichts über meinen familiären Hintergrund, weiß nicht, wovon ich mich ernähre".
"Ich bin doch kein Rassist"
Typisch für Rassismus sei, dass diejenigen, die ihn ausübten, ihn fast nie als solchen empfänden, während die Betroffenen sofort spürten, dass es sich um Rassismus handele, sagt die Psychotherapeutin. Wenn man das Wort Rassismus in Deutschland verwende, dann setze bei vielen "fast Schnappatmung" ein, hat Erman beobachtet. "Ich bin doch kein Rassist", sagten die meisten.
Dabei wollen weder Esin Erman noch Carsten Ilius sagen, dass Einzelne wie zum Beispiel Ermittler "rassistisch gewesen sein müssen von ihrer persönlichen Einstellung". Sie wollen auf Strukturen hinweisen, die zu einer einseitigen Sicht auf Menschen führen, weil man sie als Teil einer fremden Gruppe wahrnehme. In Deutschland hatte es mehrfach Beschwerden gegeben, weil Polizisten Menschen nur aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Aussehens kontrolliert hatten. Das aber ist ein Verstoß gegen das Grundgesetz, wie das Oberverwaltungsgericht Koblenz im Herbst 2012 feststellte.
"Rassismus ist in Deutschland ein Tabu"
Um "Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit" geht es nicht, denn viele der Betroffenen sind Deutsche wie auch die beiden NSU-Mordopfer Mehmet Kubasik und Halit Yozgat. 15 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Zuwanderungsgeschichte. Doch sie werden nicht von allen akzeptiert. Süleyman Tasköprü wurde am 27. Juni 2001 als mutmaßlich drittes NSU-Opfer in Hamburg ermordet. Seine Schwester beschrieb, wie eine Rathaus-Mitarbeiterin zu ihrem Sohn sagte, er sei kein Deutscher. Der Kleine erklärte ernsthaft, er habe doch einen deutschen Pass. "Heute kann ich darüber gar nicht mehr lachen", schrieb Aysen Tasköprü in einem offenen Brief an Bundespräsident Joachim Gauck.
Der Ausländerbeirat der Stadt München hat einen Test zu Rassismus im Nachtleben gemacht: Die Türsteher der Clubs ließen Personen afrikanischer und türkischer Herkunft nur in fünf von 25 Fällen durch, die Testpersonen aus Westeuropa kamen überall hinein. Hamado Dipama vom Ausländerbeirat in München sagt im DW-Interview: "Rassismus ist in Deutschland ein Tabu."
Der Fall Sarrazin - Deutschland schützt nicht wirksam vor Rassismus
Der Antirassismus-Ausschuss der Vereinten Nationen hat Deutschland im April 2013 gerügt, weil die Bundesrepublik ihre Bevölkerung nicht ausreichend vor rassistischen Äußerungen geschützt habe. Es ging um ein Interview des SPD-Politikers Thilo Sarrazin von 2009.
Darin äußerte sich Sarrazin verächtlich über Menschen mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund. Die Mehrheit habe "keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel". Ihre Mentalität sei aggressiv und primitiv, sie seien "weder integrationswillig noch integrationsfähig". Sarrazin wetterte gegen "ständig neue kleine Kopftuchmädchen". Der Türkische Bund Berlin Brandenburg erstattete Anzeige wegen Volksverhetzung und Beleidigung. Doch das Gericht stellte das Verfahren ein. Sarrazins Äußerungen wertete es als Beitrag zur politischen Debatte.
Es ist gefährlich, wenn der Staat Rassismus nicht bekämpft
Für den UN-Antirassismus-Ausschuss steht fest, dass Sarrazin sich rassistisch geäußert hat. Der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag, Siegfried Kauder (CDU), hat angekündigt, er wolle Vorschläge für ein schärferes Gesetz zur Bekämpfung von Rassismus machen. Im DW-Interview warnt der Jurist aber davor, die Richter verantwortlich zu machen: "Gerichte können nur bestehendes Recht anwenden. Wir dürfen also nicht die Richter abwatschen, sondern die Politik, die da eingreifen muss."
Äußerungen wie die von Sarrazin dürfe man nicht zulassen. "So darf man mit Menschen nicht umgehen", sagt Siegfried Kauder. Es sei gefährlich, wenn der Staat Rassismus nicht entschieden genug bekämpfe. Dann träten an den Rändern der Gesellschaft Bewegungen und Kräfte auf, "die wir nicht dulden können. Dann kommt es dazu, dass Bevölkerungsgruppen nicht nur beschimpft werden, sondern wir müssen auch damit rechnen, dass es Übergriffe gibt."