Nahost vor neuer Ära
26. Dezember 2004"Jassir Arafat, Präsident der Palästinensischen Regierung, ist am 11. November 2004 um 3.30 Uhr verstorben. Vielen Dank." Die Erklärung des französischen Arztes Dr. Christian Estripeau war kurz und bündig, aber folgenschwer. Denn mit dem Tod des Palästinenserführers in einem Pariser Militär-Krankenhaus geht eine Epoche der nahöstlichen Geschichte zu Ende, die wie keine andere ihre Auswirkungen auch auf die internationale Politik gehabt hat.
Arafat war aus Ramallah nach Paris gebracht worden, weil seine Ärzte nicht weiter wussten. Israel hatte sich zuvor bereit erklären müssen, den PLO-Chef wieder in seine Heimat zurückzulassen, obwohl dem israelischen Regierungschef Ariel Scharon nichts lieber gewesen wäre, als Arafat außer Landes zu bringen und ihn dort zu lassen. Scharon hatte sich Monate zuvor sogar in die Aussage verstiegen, es wäre wohl besser gewesen, Arafat während des Libanonkrieges umzubringen. Und er hatte Arafat längst zur "irrelevanten Person" deklariert und in seinem halb zerstörten Hauptquartier in Ramallah isoliert.
Keine Trauer bei Scharon
Scharon reagierte nicht öffentlich auf den Tod seines Widersachers. Aber es war klar, dass er Arafat keine Träne nachweinen würde. Ebenso klar aber war, dass er nun vom toten Arafat zu etwas gezwungen würde, was der lebende Arafat nie vermocht hätte: Scharon musste Verhandlungen mit den Palästinensern und eine Wiederbelebung des Friedensprozesses ins Auge fassen.
Vor allem musste Scharon nun zu dem Wort stehen, das er ein Jahr zuvor gegeben hatte: Einen einseitigen Rückzug Israels aus dem Gazastreifen vorzunehmen. Nach über drei Jahren "Intifada" mit Tausenden von Opfern auf beiden Seiten und nicht einem Ansatz von Lösung in Sicht musste Scharon sich etwas einfallen lassen. Und wenn es nur wäre, um seine Wähler ruhig zu stellen, die von ihm doch eine Beruhigung erhofft hatten.
Gleichzeitig wollte Scharon sich gegenüber Washington als friedfertiger Politiker profilieren, obwohl er von George W. Bush kaum etwas zu befürchten hatte: Kein Präsident vor diesem hatte sich je so klar und eindeutig hinter einen israelischen Regierungschef gestellt.
Sperranlage und Abzug aus Gaza
"Abzug aus Gaza" wurde ein politisches Schlagwort, das andere hieß "Trennung von den Palästinensern": Scharon ließ eine gigantische Sperranlage zwischen Westbank und Israel in Angriff nehmen, die allerdings ausschließlich auf palästinensischem Boden verläuft, den Palästinensern unzählige Alltagsprobleme beschert und wohl auch den Verlauf der künftigen Grenze markieren soll. Nach weltweiten Protesten beschäftigte sich der Internationale Gerichtshof in Den Haag mit der Frage und der Befund der Richter war im Sommer eindeutig: Das Gericht könne Israels Betrachtungsweise nicht akzeptieren. "Und es muss auch feststellen, dass die von Israel besetzten Gebiete seit über 37 Jahren seiner Jurisdiktion als Besatzungsmacht unterstehen", ließen die Richter verlauten.
Scharon blieb unbeeindruckt. Mehr als die Haager Richter begannen ihm aber die eigenen Parteifreunde Schwierigkeiten zu bereiten, weil sie den Abzug aus Gaza ablehnen: Die Koalition verlor an Mitgliedern und Scharon musste ernsthaft befürchten, bei Neuwahlen zu verlieren. Der Taktiker entschloss sich zu drastischen Schritten: Im Streit über den Haushaltsentwurf trennte er sich von einem liberalen Partner, um die Arbeiterpartei unter Schimon Peres in die Koalition zu holen. Und er ebnete dem 81-jährigen Peres sogar den Weg, indem er ihn per Gesetzesänderung zum zweiten Stellvertreter machte.
Nun kann Scharon wieder regieren und den Rückzug aus Gaza auf den Weg bringen. Weitere Probleme aber sind vorprogrammiert: Peres betrachtet Gaza nur als ersten Schritt, Scharon hingegen will es erst einmal dabei belassen. Und gegenüber der palästinensischen Verwaltung zeigt sich Scharon kompromisslos. Sie müsse wissen, dass es Fortschritt im politischen Prozess nur geben kann, wenn der Terror aufhört, die Terrorgruppen aufgelöst werden und die Reformen für die Bürger dort durchgeführt werden. "In diesen Dingen wird es kein Nachgeben von Seiten Israels geben", so Scharon.