"Netanjahu nutzt Machtwechsel in den USA aus"
1. Februar 2017DW: Frau Ben Nun, Sie arbeiten für die israelische Nicht-Regierungsorganisation "Peace Now". Welche Ziele verfolgen Sie?
Anat Ben Nun: "Peace Now" ist Israels am längsten bestehende Friedensbewegung. Wir arbeiten daran, die Möglichkeit für eine Zwei-Staaten-Lösung zu bewahren und werben dafür auch in der israelischen Öffentlichkeit. Wir glauben, dass dies die einzige Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt ist und betrachten den Siedlungsbau als das größte Hindernis dafür. Einen großen Teil unsere Arbeit widmen wir der Beobachtung und Aufdeckung der gefährlichen Siedlungsentwicklung.
In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch hat die israelische Regierung den Bau von 3000 weiteren Wohnungen im Westjordanland genehmigt. Um welche Siedlungen geht es dabei?
Einige der Siedlungen befinden sich mitten im Westjordanland. Diese Gebiete werden auch im Rahmen einer Einigung nie zu Israel gehören. Zum Beispiel Siedlungen wie Shilo oder Nokdim. In letzterer lebt Israels Verteidigungsminister Avigdor Lieberman. Andere Siedlungen befinden sich näher an der sogenannten Grünen Linie (Israel in den Grenzen vor dem Sechstagekrieg von 1967, Anm. der Red.) und wieder andere liegen in großen Siedlungsblöcken. Genau über diese wird aber verhandelt. Der Bau dieser neuen Wohnungen könnte zukünftige Gespräche deshalb enorm belasten.
Welche Konsequenzen wird der Bau für die Palästinenser haben, die in der Nähe der betroffenen Siedlungen leben?
Die Bewegungsfreiheit und der Zugang der Palästinenser werden durch die Siedlungen enorm beeinträchtigt. Die bloße Präsenz von Siedlungen und die Ausweitung durch das gesamte Westjordanland schafft eine große Frustration. Palästinenser dürfen die Siedlungen nicht betreten, es sei denn, sie haben eine besondere Erlaubnis. Einige palästinensische Grundstücke befinden sich innerhalb der festgelegten Grenzen von Siedlungen, sodass die palästinensischen Landbesitzer nur extrem eingeschränkten Zugang zu ihrem Land haben.
Um sich im Westjordanland bewegen zu können, müssen einige große Umwege fahren. Das ist ein großes Problem, vor allem im Hinblick auf einen zukünftigen palästinensischen Staat. Es ist wichtig, dass dieser Staat lebensfähig und sein Gebiet zusammenhängend ist, damit sich die Wirtschaft und auch palästinensische Städte und Dörfer entwickeln können. Das braucht jeder Staat.
Noch ist so ein Staat realisierbar. Die Ausweitung von Siedlungen aber macht eine Lösung in der Zukunft schwieriger.
Wie würden Sie allgemein die Situation der Palästinenser beschreiben - zum Beispiel im Hinblick auf Gewalt durch Siedler?
So etwas passiert nicht überall, aber doch in bestimmten Gegenden, in denen radikale Siedler leben. Dort erleben wir gewaltsame Übergriffe auf palästinensischen Besitz, auf Olivenbäume oder sogar auf Palästinenser selbst. Im vergangenen Jahr hat es aber weniger Fälle gegeben - wegen einer stärkeren Verfolgung solcher Taten durch die israelische Justiz.
Sie sprechen von radikalen Siedlern. Zählen Sie jene Menschen auch dazu, die in der jetzt geräumten Siedlung Amona lebten?
Ja. Sie haben sich auf privatem Land niedergelassen, das Palästinensern gehört. Das war ihnen bewusst und sie haben es trotzdem getan, ohne Erlaubnis der Regierung. Damit haben sie die Regierung und die gesamte israelische Bevölkerung mit hineingezogen.
2014 war die Räumung der Siedlung Amona angeordnet worden. Jetzt erst wurde sie umgesetzt - nicht ohne Gegenwehr der Siedler. Die Polizei hat es trotzdem durchgesetzt. Gibt das Anlass zur Hoffnung?
Ich denke, was wir am Beispiel von Amona sehen können ist, dass die Regierung das Urteil des Obersten Gerichtshofs in Israel anerkennt. Wenn man sich die 97 illegalen sogenannten Außenposten im Westjordanland anschaut - die wurden alle ohne Erlaubnis der Regierung errichtet und sollen alle geräumt werden. Doch die Anordnungen werden nicht ausgeführt, weil die Siedler in der Regierung eine starke Lobby haben.
Gleichzeitig versucht die Regierung Netanjahu, den illegalen Siedlungsbau per Gesetz zu legalisieren, damit so etwas wie in Amona in Zukunft nicht mehr durchgeführt werden muss.
Warum meinen Siedler wie jene in Amona, dass ihnen dieses Land zusteht?
Ich kann nicht für sie sprechen, aber es gibt einige Menschen, die glauben, dass das gesamte Land zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer Gott gegeben ist. Sie glauben, dass Israel das ganze Land zusteht.
Auch unter den Palästinensern gibt es übrigens solche Vorstellungen. In Anlehnung an das historische Palästina meinen sie, dass das gesamte Land den Palästinensern gehört. Was wir brauchen, ist eine klare Regelung.
Welche Rolle spielt der neue US-Präsident Donald Trump? Seit seiner Amtsübernahme hat die israelische Regierung den Bau zahlreicher Siedlungen beschlossen. Trump tut nichts dagegen. Nutzt Premierminister Benjamin Netanjahu das aus?
Ich glaube, dass wir uns die Siedlungspolitik der neuen US-Regierung erst mal anschauen müssen. Jene Siedler die schon feiern, tun das vielleicht zu früh. Netanjahu nutzt den Machtwechsel in den USA aus, um den Siedlungsbau voranzutreiben. Damit stellt er die Siedler-Lobby zufrieden und entschädigt sie für die Räumung von 45 Gebäuden, die illegal auf palästinensischem Land errichtet worden waren. Jetzt kann Netanjahu die Pläne umsetzen, die er während der Regierung Obama nicht umsetzen konnte.
Außerdem versucht er gerade, die Öffentlichkeit von den Korruptions-Ermittlungen abzulenken, die gegen ihn laufen.
Besteht Ihrer Meinung nach noch Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung?
Wir bei "Peace Now" glauben noch immer, dass die Möglichkeit einer Zwei-Staaten-Lösung besteht. Nach all den Jahren einer rechten Regierung glauben wir noch immer daran. Immerhin unterstützt - laut Umfragen - die Mehrheit der Israelis noch immer eine Zwei-Staaten-Lösung. Und das trotz allem, was in den vergangenen Jahren geschehen ist.
Anat Ben Nun ist Leiterin der Pressestelle der israelischen Friedensbewegung "Peace Now". Die Organisation wurde 1978 gegründet. "Peace Now" (Hebräisch: Schalom Achschaw) setzte sich 2005 für den Rückzug Israels aus dem Gazastreifen ein.
Das Gespräch führte Nastassja Shtrauchler.