"Stranger Things": Sehnsucht nach der Kindheit
2. Juli 2022Rund 30 Millionen Dollar pro Folge: So viel soll die Streaming-Plattform Netflix für die Produktion der vierten Staffel von "Stranger Things" ausgegeben haben. Seit dem 27. Mai waren die ersten sieben Folgen der neuen Staffel auf Netflix zu sehen, am 1. Juli wurden zur Freude der Fans endlich auch die mit Spannung erwarteten letzten beiden Episoden freigegeben. Die Produktionskosten sollen sich auf sagenhafte 270 Millionen Dollar belaufen, so berichtete es das "Wall Street Journal". Die Serie ist eines der Flaggschiffe der US-amerikanischen Streaming-Plattform Netflix und zieht ein weltweites Publikum in ihren Bann.
"Stranger Things" spielt in den 1980er- Jahren: In der Kleinstadt Hawkins verschwindet ein kleiner Junge namens Will. Seine Freunde versuchen, ihn wiederzufinden - und erfahren, dass Will von Monstern in eine Parallelwelt entführt worden ist. Gemeinsam mit einem Mädchen mit übersinnlichen Kräften und Mithilfe älterer Geschwister und Erwachsener schlagen sie die Monster in die Flucht.
So lautet das "Stranger Things"-Prinzip, das sich über die folgenden Staffeln stets getreu wiederholte. Die Kinder wurden älter, die Monster größer, verlässlich aber waren der Grusel, der Humor und die Beziehungsdramen, ob in der Freundschaft oder der ersten Liebe.
Außerdem: die Nostalgie. Jede Staffel garantiert die Rückkehr in eine liebevoll rekreierte US-amerikanische Kleinstadt aus den 1980er-Jahren. Auch die vierte Staffel macht darin keine Ausnahme: In der ersten Szene folgt die Kamera einem kleinen weißen Jungen, der auf seinem Fahrrad Zeitungen austrägt. Er radelt durch ein wohlhabendes Viertel mit gepflegten Einfamilienhäusern, langen Einfahrten und akkurat gemähtem Rasen. Jogger grüßt Zeitungsjunge, in jeder Einfahrt steht ein dickes Auto, die Welt ist in Ordnung.
Ein Fest der Nostalgie
Viele Kritikerinnen und Kritiker sehen im Schauplatz das Erfolgsrezept von "Stranger Things". "Die Nostalgie-Welle für die 1980er begann schon vor 'Stranger Things'", so Joachim Friedmann, Professor für serielles Storytelling an der Internationalen Filmhochschule in Köln. Schon 2009 wurden Serien unter dem Gesichtspunkt verkauft, dass sie eine Nostalgie für die 1980er-Jahre bedienen würden. "Diese Wellen beginnen immer dann, wenn die Teenager von damals an die Schaltstellen kommen und als Erwachsene entscheiden können, was für Serien jetzt gemacht werden", führt Friedmann aus.
Ganz offen bedient sich "Stranger Things" an Kultwerken der 1980er, darunter dem Horror-Film "A Nightmare on Elm Street" (deutsch: "Nightmare - Mörderische Träume") mit dem Schurken Freddy Krueger (1984), der Horror-Komödie"Ghostbusters" (1984) und Stephen Kings gruseliger Coming-of-Age-Geschichte "It" ("deutsch: "Es") - die erste Verfilmung erschien zwar erst 1990, der Roman aber bereits 1986. Auch die Musik der 80er und ihre Ästhetik werden für die Serie wiederbelebt, genauso wie die Frisuren, die Mode und die Gadgets aus jener Zeit.
"Das ist das 'Ich fühle mich wieder jung'-Phänomen", sagt Friedmann. "Aber darüber hinaus waren die 1980er auch das letzte klar definierte Jahrzehnt in der westlichen Popkultur. Politisch waren die Zuordnungen im Kalten Krieg noch klar: hier Ost, da West, hier Gut, da Böse. Und es gab zum Beispiel in Deutschland im Prinzip nur eine Musiksendung, viele hörten eben doch dasselbe, schauten dasselbe, obwohl es natürlich Subkulturen gab."
Wegen ihrer verhältnismäßig einheitlichen Popkultur würden sich die 1980er so als Nostalgie-Schauplatz anbieten, führt Friedmann aus. "Das gibt Orientierung. Das Gefühl ist: 'Damals war die Welt noch in Ordnung'."
Die 1980er Jahre: Ein Jahrzehnt voller Ungewissheit
Dabei waren die 1980er natürlich alles andere als sorgenfrei: Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise prägten den Beginn des Jahrzehnts, außerdem entstand damals die politische Umweltbewegung. Angst vor einem großflächigen Waldsterben machte sich breit, 1986 ereignete sich zudem die Atomkatastrophe in Tschernobyl, und im selben Jahr stürzte die "Challenger"-Raumfähre vor den Augen der Weltöffentlichkeit ab.
Deshalb kennzeichnet Historikerin Angela Siebold die 1980er in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung als "Zeit der großen ökonomischen, militärischen oder ökologischen Bedrohungen, welche häufig diffus und zugleich unentrinnbar erschienen und dadurch erst recht Ängste schürten".
Das bestätigt Friedmann im Gespräch: "Als Zeitzeuge kann ich sagen: Natürlich war damals gar nichts in Ordnung. Wir hatten ständig Angst vor dem Atomkrieg. Aber es gab eine große Übersichtlichkeit."
Diese Ängste werden in "Stranger Things" umgewandelt, so wie schon in den Horror-Filmen und -Romanen der 1980er. Sie erscheinen in Form von lebensbedrohlichen Monstern, die oft vor allen Dingen von Kindern - und in aller Regel überwiegend von Jungen - wahrgenommen und besiegt werden können.
Das ist es, was "Stranger Things" so anziehend macht: Der Wunsch, in eine verlorene, aber übersichtliche Kindheit zurückzukehren, in der man das Böse noch in Form von Monstern unter dem Bett erkennen und besiegen konnte, anstatt sich als Erwachsener mit Ambivalenzen, Routinen und strukturellen Problemen wie der Klimakrise, der Bedrohung durch nukleare Waffen und Energie oder einer immer weiter wachsenden globalen Ungleichheit auseinandersetzen zu müssen.
Ein langes Erzählvergnügen - wie Homers "Ilias"
Dafür schaltet man den Fernseher gern an - und das auch an mehr als nur einem Abend: Die vierte Staffel von "Stranger Things" läuft über 13 Stunden, beinahe vier davon entfallen auf die letzten zwei Folgen, die Netflix erst jetzt veröffentlichte.
Das mag ungewöhnlich lang erscheinen, verwunderlich ist es aber nicht. Nicht nur die nie zu stillende nostalgische Sehnsucht spielt hier eine wichtige Rolle. Das Fernsehen bewege sich ohnehin in einer Erzähltradition, die lange Geschichten zu bieten habe, so Friedmann, manchmal sogar potenziell unendliche. "Eine Geschichte ist im Kern ein Bericht über eine Problemlösung. Die Serie geht davon aus, dass das Problem nicht zu lösen ist - und ist damit oft ja viel näher am Leben, das uns immer wieder mit Problemen konfrontiert."
Das Verlangen von Menschen aller Altersstufen nach langen, epischen Erzählungen voller Abenteuer, Liebe und Gefahren sei nichts Neues und an keine besondere Epoche der Menschheitsgeschichte gebunden. Bardinnen und Barden erzählten schon in der Antike Geschichten, die mehrere Tage lang dauerten, so zum Beispiel Homers "Ilias" oder die "Odyssee", in der sich die Monster nur so tummeln. Auch damals musste es also schon ein Publikum gegeben haben, dass Abend für Abend mehrere Stunden lang wiederkehrte, um zu hören, wie der Kampf gegen die Ungeheuer weitergeht.
Diese Form des langen, abgeschlossenen Erzählens haben die Streaming-Plattformen wie Netflix zur Königsklasse erhoben, insbesondere deshalb, weil sie sich nicht an Werbeslots und Ausstrahlungszeiten halten müssen wie das lineare Fernsehen.
Einfach ein bisschen gruseln
"Stranger Things" macht das einfach besonders spannend - und paart es mit sympathischen Außenseitern als Hauptfiguren, sogenannten Nerds, die heute längst ganze Wirtschaftszweige dominieren, und der Sehnsucht nach einer überschaubareren, verlorengegangenen Welt, der Welt der Kindheit, die es so natürlich nie gab.
Denn die Probleme, derer sich viele Menschen in Europa und Nordamerika in den 1980er-Jahren bewusst waren, sind heute immer noch so aktuell wie damals. Ob steigende Temperaturen, wachsende globale Armut oder der Krieg in der Ukraine: 13 Stunden lang kann das Publikum von "Stranger Things" zu den Synthesizer-Klängen der 1980er all seine Ängste hinter sich lassen, um das Liebesleben sympathischer Jungs und Mädchen bangen und sich einfach ein bisschen gruseln.
Dies ist die aktualisierte Fassung eines Artikels vom 27.05.2022.