NATO will schlanker werden
20. November 2010Nach der NATO 1.0 im Kalten Krieg und der NATO 2.0 nach dem Kalten Krieg zwischen West und Ost sei es jetzt an der Zeit für etwas Neues, sagte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Er sparte zu Beginn des Gipfeltreffens in der Hauptstadt Portugals am Freitag (19.11.2010) nicht mit großen Worten. "Wir starten heute in eine neue Ära der NATO", sagte er, nachdem die 28 Staats- und Regierungschefs des Bündnisses das neue Strategische Konzept förmlich angenommen hatten. Die neue Strategie schreibt die alte aus dem Jahr 1999 fort, angereichert um die Erfahrungen, die im Afghanistan-Einsatz gewonnen wurden. Neu sind unter anderem die Einrichtung einer Raketenabwehr, möglichst mit Russland, eine stärkere Konzentration auf Hacker-Attacken und Einsätze in aller Welt.
Neu ist auch das freundlichere Klima zwischen der unbestrittenen NATO-Führungsmacht USA und den europäischen Verbündeten. US-Präsident Barack Obama setzt mehr auf Partnerschaft als sein Vorgänger George W. Bush, der die NATO als "Werkzeugkasten" für die Durchsetzung eigener militärischer Ziele gesehen hatte. Der dänische Generalsekretär will mit der neuen Strategie auch das Verhältnis zur Europäischen Union und zu vielen Partnern weltweit, wie den Vereinten Nationen, auf eine neue Basis stellen. Zudem soll die militärische Organisation schlanker und billiger werden. In den Kommandostrukturen der NATO sollen Hunderte Stellen wegfallen. "Wir wollen weniger Fett und mehr Muskeln", sagte Rasmussen. Welches Mitgliedsland auf welche Posten verzichten soll, ist aber noch nicht ausgehandelt.
Raketenabwehr soll NATO zusammenschweißen
Deutschland und Frankreich hatten sich im Vorfeld auf eine Kompromissformel zum Thema Abrüstung geeinigt. So soll die nukleare Abschreckung durch die NATO-Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien so lange beibehalten werden, wie andere Staaten Atomwaffen besitzen oder nach ihnen streben. Gleichzeitig wird an dem Ziel der Abrüstung und einer in Zukunft atomwaffenfreien Welt festgehalten. Darauf hatte besonders Bundesaußenminister Guido Westerwelle großen Wert gelegt.
Mit Sorge registrieren die NATO-Partner in diesem Zusammenhang, dass der US-Senat die Ratifizierung des mit Russland ausgehandelten neuen Abrüstungsvertrages START aufhalten könnte. Diese innenpolitische Schwäche von US-Präsident Barack Obama könnte die Versuche, Russland enger an die NATO zu binden, belasten.
Merkel: "Kalter Krieg ist endgültig vorbei"
Russlands Präsident Dmitri Medwedew, der am Samstag in Lissabon erwartet wird, hatte gesagt, er werde die Beteiligung an einer Raketenabwehr in Europa prüfen. Bundeskanzlerin Angela Merkel will, dass die NATO auf Russland zugeht: "Die Tatsache, dass mit Russland über die Bedrohungsanalyse gesprochen wird und auch über die Möglichkeiten, zusammenzuarbeiten bei dem Raketenabwehrsystem, halte ich für einen unglaublichen, wichtigen Schritt, der sozusagen zeigen könnte, dass der Kalte Krieg nun wirklich vorbei ist."
Die Raketenabwehr soll nach den jüngsten Ideen von Rasmussen aus einem System von bereits bestehenden mobilen Abwehrsystemen mit kurzen Reichweiten bestehen. Diese Abwehrsysteme vom Typ "Patriot" besitzt auch die Bundeswehr. Rasmussen sieht in der Raketenabwehr ein entscheidendes Projekt, bei dem NATO und Russland gemeinsame Interessen haben, weil sie sich der gleichen Bedrohung gegenüber sehen. "Raketenabwehr wird die NATO zusammenschweißen. Durch das Angebot an Russland mitzumachen, haben wir eine Chance, eine Sicherheitsarchitektur für den ganzen euro-atlantischen Raum zu schaffen", sagte Rasmussen.
Abgespeckte Raketenabwehr
Mit Russland wird schon seit längerer Zeit an einem Abwehrsystem für kurze Reichweiten gearbeitet. Diese Systeme sollen nun flächendeckend eingesetzt werden. Hinzu kommt ein US-amerikanisches Raketenabwehrsystem für Nordamerika. Von dem globalen Abwehrsystem, das Interkontinentalraketen abfangen kann, haben sich die USA und die NATO verabschiedet. Die dazu gehörenden Komponenten in Polen und Tschechien sollen nicht mehr gebaut werden.
Die globale Raketenabwehr war unter US-Präsident Bill Clinton entwickelt und von seinem Nachfolger George W. Bush weitergeführt worden. Es zeigte sich bei Tests jedoch schnell, dass das System sehr teuer und relativ unzuverlässig war. Gegen dieses System hatte Russland protestiert, weil es angeblich auch russische Atomwaffen hätte abfangen können.
Das neue Raketenabwehrsystem richtet sich jetzt gegen die 30 Staaten, allen voran der Iran, die Mittelstreckenwaffen entwickeln und anschaffen. Die Türkei stimmte dem Raketenabwehrsystem zu, will aber einen hohen Kommandoposten im Raketenabwehrsystem für sich beanspruchen.
Kampfplatz virtueller Raum
Rasmussen wies daraufhin, dass die Allianz derzeit rund 100.000 Soldaten im Ausland eingesetzt hat, von Afghanistan bis zum Kosovo. In Zukunft komme statt Soldaten aus Fleisch und Blut auch der virtuelle Krieg hinzu. Ein Schwerpunkt der neuen Strategie sei der Kampf gegen Computer- und Hackerattacken.
Die Gesellschaften seien völlig von elektronischer Kommunikation und dem Internet abhängig. Deshalb sei der Schutz dieser Systeme eine neue Aufgabe für die NATO. "Cyber-War" werde immer wichtiger. Die NATO werde in diesem Bereich neue Fähigkeiten aufbauen.
Autor: Bernd Riegert, Lissabon
Redaktion: Thomas Grimmer