Kunst-Rundgang mit Ärztin
11. Juli 2012Für eine geführte dOCUMENTA-Tour mit Ina Lange ist der Treffpunkt der Container vor dem Hauptbahnhof, den in Kassel alle nur noch "Kulturbahnhof" nennen. Ina Lange hält ein gelbes dOCUMENTA-Schild in der Hand, zählt kurz durch und marschiert los in Richtung Gleise. 15 Besucher folgen ihr. Der Kasseler Bahnhof ist eines der Herzstücke der dOCUMENTA (13), der weltweit wichtigsten Schau für zeitgenössische Kunst. Seit dort nur noch wenige Regionalzüge verkehren, dient der Bahnhof als Außenstelle der dOCUMENTA.
Ina Lange hält sich gerne im Kulturbahnhof mit ihren Gruppen auf, weil er weitläufiger sei als das Friedricianum, die Kasseler Kunsthalle. Dort arbeitet sie ebenfalls als Worldly Companion. Im Kulturbahnhof könne sie sich mehr Zeit lassen vor den Kunstwerken. Keiner drängele, wenn sie mit den Besuchern ausführliche Gespräche über die Herkunft und Bedeutung der Arbeiten führe. Denn darum geht es den Worldly Companions: um den Austausch über Kunst. "Der klassische Museumsführer hat ausgedient", sagt Ina Lange, als sie sich vorstellt. "Die dOCUMENTA (13) will etwas anderes: Sie sucht mit den Besuchern einen Dialog auf Augenhöhe."
Vom Hund bis zum ehemaligen Bundesminister
Deshalb hat sich die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev das Konzept der weltgewandten Begleiter, auf Englisch Worldly Companions, ausgedacht. Sie suchte nach Menschen mit ganz normalen Berufen - die nicht in Kunstgeschichtevorlesungen saßen - dafür aber Lebenserfahrung mitbringen sollten. Ina Lange war eine von 700 Bewerbern. Eigentlich arbeitet die 55-jährige Mutter von zwei Kindern als Ärztin für Neurologie an einer Klinik in Göttingen. Die moderne Kunst liegt ihr schon lange am Herzen.
Seit Januar 2012 hat sie gemeinsam mit ihren 180 Kollegen Künstler, Kunstwerke und documenta-Geschichte gebüffelt. Gemeinsam mit Abiturienten, Automechanikern, Architekten, Krankenschwestern, Linguisten, Archäologen oder auch Agrar-Wissenschaftlern besuchte sie Seminare, um sich zum Worldly Companion ausbilden zu lassen. Sogar Hans Eichel, der ehemalige Bundesfinanzminister, machte mit. Als gebürtiger Kasselaner ist er ein wichtiger Zeitzeuge der dOCUMENTA-Geschichte. Und nicht zu vergessen: zehn Rettungshunde. Gemeinsam mit ihren Ausbildern erschnüffeln sie den Weg zu den Kunstwerken in der Karlsaue. Tiere sind der dOCUMENTA-Chefin wichtig. Ihr Instinkt, ihre Neugier machen sie in ihren Augen zu Vorbildern für den Menschen. Für sie gibt es ganz im südlichen Zipfel der Karlsaue einen Skulpturenpark für Hunde. Der "Dog-Run" sieht ein bisschen wie eine Miniatur-Kirmes für Hunde aus.
Touren: In zwei oder in zehn Stunden über die dOCUMENTA
An Führungen gibt zum Beispiel die "Ausdauer-Tour" - den "Iron Man" für die, die es ganz genau wissen wollen. Sie beginnt um zehn Uhr früh und endet um 20 Uhr. So lange würde Ina Lange in ihren leichten Sandalen wohl nicht durchhalten. Immerhin bringt sie es an diesem Samstag auf beachtliche drei Touren à zwei Stunden. Rund zehn ihrer Lieblingskunstwerke besucht sie mit ihrer Gruppe im Kulturbahnhof. "Wir müssen schließlich eine Beziehung haben zu den Kunstwerken, auch eine emotionale, um Diskussionen anzuregen", erklärt sie auf dem Weg zum ersten Halt.
Aus Bahn-Lautsprechern erklingt Cello-Musik. Jetzt muss Ina Lange erklären: "Die Studie für Streichermusik ist eine Komposition von Pavel Haas, der von diesem Bahnhof von den Nationalsozialisten in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde, wo er 1944 starb. Das Stück wurde für die Dreharbeiten eines Nazi-Propagandafilms zweckentfremdet." Der Ort und die Musik gehen eine eindrucksvolle Synthese aus Vergangenheit und Heute ein. Ina Lange fragt, was diese Installation bei den Besuchern bewirkt. Betretenes Schweigen ist die Antwort.
Kunst soll nachdenklich machen
Das Bewerbungsverfahren für die dOCUMENTA-Begleiter war zugleich eine Prüfung der Formulierungsstärke und der Spontaneität. Es gehörte dazu, einen Text über Kassel und einen Text über sich selbst zu verfassen. Beim anschließenden Bewerbungsgespräch drückte man Ina Lange einen Pflasterstein in die Hand. Ihre Assoziationen über die protestierende, deutsche 1968er-Generation und den Wandel der Frauenbewegung überzeugten das Auswahlkomitee.
Es ist nicht ihr Beruf als Ärztin, der sie als Worldly Companion auszeichnet, sondern ihr einfühlsamer Umgang mit den Besuchern. Sie stellt und beantwortet Fragen so, dass keiner der Besucher Angst haben muss, sich zu blamieren. Sie staunt genauso über den Erdhaufen des US-Künstlers Michael Portnoy wie diejenigen, die das Kunstwerk in Form eines Vulkans mit integrierter Schauspielbühne zum ersten Mal sehen. "Sind wir nicht alle längst Opfer des Kapitalismus?", fragt Ina Lange die Besucher vor der Werkgruppe des Amerikaners Seth Price, der in das Innere von Stoffskulpturen das Logo der Schweizer Bank UBS eingenäht hat. So eine Frage klingt ein bisschen naiv, hilft aber dabei, eine Diskussion über die Finanzkrise und die Banken in Gang zu bringen.
Umwege und Nebenwege
Für Kunst gibt es keine Deutungshoheit. Sie lässt sich nicht erklären, so die Philosophie der "dTOURS". Die Vermittlungsagentur nennt sich "Umwege", weil sie mit den Worldly Companions Neues ausprobieren will. Sie setzt auf den angeborenen Wissensdrang der Menschen, den es zu aktivieren lohnt, für den Umwege eingeschlagen werden müssen. Das Konzept ist als Begegnung sympathisch wie anregend und lebt von der ungewöhnlichen Verbindung, die sich aus den unterschiedlichen Wissensbereichen wie Philosophie, Geschichte, Bildung oder auch Medizin ergibt.
"Wir", sagt Ina Lange, ohne es zu merken, wenn sie von der dOCUMENTA spricht. "Wir sind stolz auf dieses Kunstwerk", und meint die Filminstallation "Refusal of Time" des Südafrikaners William Kentridge, und entlässt die Besucher ins Dunkel des Raums. Für viele Teilnehmer ist Kentridge der Höhepunkt der Tour auf dem Kulturbahnhof. Hier können sie sich fallen lassen, den berauschenden Tönen und Bildern hingeben. Für Ina Lange ist die letzte Station das Sahnehäubchen, "das jeder für sich genießen soll". Als Worldly Companion scheint sie nicht nur mit der Idee der dOCUMENTA verwachsen. Sie ist vielleicht auch ein bisschen gewachsen an den Herausforderungen, außerhalb ihres normierten Alltags in einem Krankenhaus, die Freiheiten der Kunst anderen weiterzugeben.