"Nicht eine einzige Frau mehr": Massenproteste in Bulgarien
2. August 2023Tausende Bulgarinnen und Bulgaren stehen Ende Juli 2023 auf der Straße. Sie schreien "Das System funktioniert nicht!" und halten Plakate hoch, auf denen sie mit blutroter Schrift ihre Forderung gemalt haben: endlich der Gewalt ein Ende zu setzen, die Frauen im Land täglich erleben, zuhause und in der Öffentlichkeit. Nicht von Fremden, sondern von ihren Partnern und Menschen, die ihnen nahestehen. "Nicht eine einzige Frau mehr", so lautet das Motto der Demonstrationen, die in mehr als 20 bulgarischen Städten stattfanden.
Es ist nicht das erste Mal, dass in Bulgarien aufgrund der anhaltenden Gewalt gegen Frauen protestiert wird. Allein 2022 wurden mindestens 26 Frauen von Menschen getötet, die ihnen nahestehen, zeigen Daten verschiedener NGOs, die sich gegen häusliche Gewalt einsetzen.
Messerstiche und eine gebrochene Nase: einfache Körperverletzung
Die aktuellen Proteste entzündeten sich am Fall einer 18-Jährigen aus der Stadt Stara Zagora im Zentrum Bulgariens, die von ihrem Ex-Freund brutal misshandelt wurde. Er überfiel sie und stach so heftig mit einem Plastikmesser auf sie ein, dass die Wunden mit 400 Stichen genäht werden mussten. Er brach ihre Nase und rasierte ihre Haare ab.
Der Vorfall ereignete sich bereits am 26. Juni. Er wurde der breiten Öffentlichkeit erst einen Monat später bekannt, als eine Frau, die der Opferfamilie nahesteht, die Medien informierte. Freunde des Täters bedrohten die Informantin deswegen.
Der Täter musste sich bereits kurz nach der Tat vor dem Amtsgericht von Stara Zagora verantworten. Das Gericht entschied, die Verletzungen des Opfers seien nur als "einfache Körperverletzung" zu bewerten. Die Frau sei durch die Tat nicht langfristig entstellt worden, ihr Leben sei zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gewesen. Der Täter kam aus der Haft frei - obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits für ein ähnliches Verbrechen eine Bewährungsstrafe verbüßte.
Öffentlicher Druck - und endlich Veränderungen?
Als der Fall einen Monat später öffentlich bekannt wurde, rollte eine Empörungswelle durch die bulgarische Gesellschaft, die das Land in dieser Größenordnung schon länger nicht mehr gesehen hatte. Wut und Enttäuschung machten sich breit - wegen der unzureichenden Antwort des Justizsystems, aber auch wegen der weit verbreiteten Nachsicht gegenüber häuslicher Gewalt. "Es ist wirklich furchtbar, dass es diese Unterdrückungskultur in Bulgarien gibt - im 21. Jahrhundert, in einem europäischen Land", sagt Simeon, der an den Protesten in Sofia teilnimmt.
Die Wut der Öffentlichkeit richtet sich vor allem gegen die Richter und die Staatsanwaltschaft, weil sie den Täter laufen ließen und ihn nicht härter bestraften. Verantwortlich dafür ist, wie sich später herausstellte, unter anderem ein gerichtsmedizinisches Gutachten, in dem die Verletzungen der jungen Frau nur als "leicht" bewertet wurden. In den Diskussionen um den Fall wird vor allem die aktuelle Gesetzeslage, die eine solche Einstufung trotz der Brutalität der Tat ermöglicht, kritisiert. Eine der zentralen Forderungen der Demonstranten ist es deswegen, dass die Politik die Gesetze weiter anpassen muss.
Mittlerweile hat der Fall auch personelle Konsequenzen: So musste der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt von Stara Zagora zurücktreten, ebenso der Arzt, der das gerichtsmedizinische Gutachten ausgestellt hatte. Inzwischen wurde ein zweites medizinisches Gutachten beantragt. Und der Täter wurde zum zweiten Mal verhaftet, weil die Staatsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen feststellte, dass er dem späteren Opfer noch vor der Tat Morddrohungen schickte - was strafbar ist.
Dass neue Bewegung in den Fall kam, ist vor allem den tausenden Demonstranten zu verdanken, die bei den Protesten in allen größeren Städten des Landes ein faires Gerichtsverfahren und ein Ende der Toleranz gegenüber häuslicher Gewalt gefordert hatten. "Ich bin hier, weil meiner Enkelin vor einiger Zeit das gleiche passiert ist", berichtet eine ältere Frau auf dem Protest in Sofia der DW. "Sie haben den Täter nie verurteilt. Er hat das Land inzwischen verlassen. Jetzt kann ihn keiner mehr finden."
Ein Ende der "Kultur der Gewalt"?
Mehr als 20 Prozent aller Frauen in Bulgarien zwischen 18 und 74 Jahren wurden in ihrer derzeitigen oder einer vergangenen Beziehung von ihrem Partner körperlich misshandelt, zeigt eine 2021 durchgeführte Erhebung des Nationalen Statistikinstituts in Bulgarien. "Die meisten Leute halten das für ganz normal. Sie verurteilen es nicht - und so passiert es einfach weiter", sagt Andrea, auch sie nimmt an dem Protest in Sofia teil.
In Teilen der bulgarischen Gesellschaft sind traditionelle Wertvorstellungen fest verankert. Dazu zählt die Ansicht, dass unter dem Begriff "Familie" heterosexuelle Paare aus Mann und Frau verstanden werden, aber auch die Auffassung, dass ein Paar etwaige Probleme, die es hat, unter sich ausmachen muss - auch wenn es um körperliche Gewalt geht. Das seien "überholte patriarchale Vorstellungen", erklärt die Psychologin Alexandra Petrova der DW. "Demnach hat der Mann das Recht, die Frau zu kontrollieren. Männer missbrauchen ihre Frauen auch psychisch, weil sie denken, dass diese nicht gut genug für sie sind."
Kampagne gegen Istanbuler Konvention
Bis heute hat Bulgarien die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt nicht ratifiziert, die der Europarat 2011 vorgebracht hat. Der Vertrag, der für alle ratifizierenden Staaten völkerrechtlich bindend ist, soll vor allem Mädchen und Frauen vor Gewalt schützen. In Bulgarien allerdings wird er für ideologische Machtspiele missbraucht.
Als die Konvention 2019 zum ersten Mal ins bulgarische Parlament eingebracht wurde, initiierte die Sozialistische Partei eine Kampagne gegen den Vertrag. Sie stürzte sich auf die Idee, dass die Konvention die soziale Konstruktion von Geschlecht unterstütze - und damit indirekt durch eine Ratifizierung der Konvention die rechtliche Grundlage für die Anerkennung eines "dritten Geschlechts" erwirkt werde. Dieses Narrativ wurde in den vergangenen Jahren immer wieder verbreitet - auch, um den Hass gegen die LGBTQ-Community aufzustacheln.
In den vergangenen Tagen wurde eben dieses Narrativ wieder hervorgekramt. Demonstranten, die vor allem gegen die Gewalt an Frauen protestieren, werden ideologische Beweggründe nachgesagt - und dass sie durch den Protest die Unterzeichnung der Konvention erzwingen wollten.
Allerdings gibt es politisch auch erste Fortschritte. So trifft sich das Parlament am 7. August 2023 für eine Notfall-Sitzung, um mögliche Änderungen am Strafgesetz zu besprechen. Das ausgelobte Ziel ist es, härtere Strafen für einfache und mittelschwere Körperverletzungen zu beschließen und auch psychischen Missbrauch strafbar zu machen - was bislang noch nicht der Fall ist.
Ein Justizsystem, das den Missbrauch von Frauen ernstnimmt, und eine Gesellschaft, die genauer hinschaut - darauf hoffen auch die Demonstranten im ganzen Land. Die Zahl der Menschen auf den Straßen und die Unterstützung des 18-jährigen Opfers im Netz machen ihnen Hoffnung. So etwa Krasimir, der in Sofia mitprotestiert: "Ich hoffe, dass das, was gerade passiert, die Augen der Menschen endlich öffnet", sagt er.