Nike Wagner: "Wir vertreten aufklärerische Werte"
31. August 2018Deutsche Welle: Wie werden wir das Thema Schicksal gleich am Eröffnungswochenende des Beethovenfests wahrnehmen?
Nike Wagner: Beim Eröffnungskonzert spielt das Orchestre Philharmonique de Radio France Beethovens Fünfte Sinfonie. Da ist die Schicksalsthematik ganz klar, und das ist das Schlüsselwerk dieses Jahres. Auf dem Programm steht auch "Le Tombeau de Couperin" von Ravel. Das Werk ist 1914 zunächst als Klaviersuite als eine Huldigung an Couperin entstanden, den großen nationalen französischen Barockkomponisten. Dann wurde Ravel in den Krieg eingezogen – und hat gesehen, wie gute Freunde von ihm auf dem Schlachtfeld zu Tode gekommen sind. Deswegen hat er jedes dieser Hommage-Stücke gefallenen Kameraden gewidmet.
Mit der Matinee an diesem Eröffnungswochenende wird es sehr politisch sein. Da hören wir von Mauricio Kagel: "10 Märsche um dem Sieg zu verfehlen". Dem braucht man nichts mehr hinzuzufügen!
Dann bin ich auf eine ganz außerordentliche Verarbeitung vornehmlich der Schauspielmusik zu Beethovens "Egmont" gestoßen, aber auch andere Beethoven-Stücke, durch Paul Griffiths, einen englischen Musiker und Musikschriftsteller. Griffiths war entsetzt über den Bericht eines UN-Friedenssicherungsgenerals, der in Ruanda stationiert war und gemerkt hat, wie hilflos die Blauhelme sind, wenn es um fast schicksalhafte, blitzartig zuschlagende Gewalt geht. Wir hören Paul Griffiths' musikalisch aufbereiteten Bericht dieses Generals, der in der Wirklichkeit dann aus Verzweiflung mehrere Selbstmordversuche gemacht hat.
Beim Konzert des Russischen Nationalorchesters am Eröffnungswochende haben wir drei "letzte" Werke: Rossinis "Wilhelm Tell", Schostakowitschs Fünfzehnte Sinfonie und das letzte Violinkonzert von Robert Schumann – also drei schicksalhafte, späte Werke.
Schicksal ist ein konkreter, aber auch ein abstrakter Begriff. Welche Erkenntnisse haben Sie selber zu der Idee "Bestimmung oder Selbstbestimmung", bei der Entwicklung des Programms gewinnen können?
Es war mit diesem Motto nicht einfach: Der Begriff Schicksal ist ganz und gar uferlos! Seit den alten Griechen gibt es das Auf und Ab zwischen anonymer Schicksalsmacht – die Griechen haben sie in den Göttern personifiziert – und der Eigenbestimmung, der Selbstverantwortung, das Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Zwischen diesen beiden Polen geht es über die Jahrhunderte hin und her.
Erst in der Aufklärung ist es eigentlich gelungen, vom Menschen selber zu verlangen: "Du bist verantwortlich für dein Schicksal!" Dann haben die Leute angefangen zu sagen: "Wir machen Geschichte, wir lassen uns nicht von irgendwelchen dunklen Mächten beeinflussen." Das ist eben das Tolle der Aufklärung, dass sie mit diesem rationalen Schicksalsbegriff den alten fatalistischen Begriff abgeräumt hat.
Heutzutage sagen die Neurowissenschaftler: "Die Gene sind Schicksal", oder "Unser Gehirn ist Schicksal". Oder ich lese etwa Beiträge aus der Türkei. Da behauptet Erdogan: "Geographie ist doch Schicksal. Wir haben eine Brückenfunktion zwischen Ost und West, da kann man keine Demokratie nach westlichem Vorbild entwickeln."
Es wird also alles Mögliche als Schicksal herangezogen. Dazu kommt auch noch das Horoskop, Aberglaube und die schwarze Katze. Alles existiert nebeneinander. Das ist das sehr Interessante an diesem Schicksalsbegriff.
Gut, es gibt dazu eine Pluralität. Gibt es dann aber bei Ihnen eine Stoßrichtung? Welche Auffassung von Schicksal kommt beim Beethovenfest zum Ausdruck?
Wenn man das Festival situieren kann - und dazu gibt Beethoven die Gelegenheit - ist es im Raum der Aufklärung, des aufgeklärten Denkens, auch wenn wir inzwischen die Post-Post-Post-Aufklärung haben. Denn die irrationalen Gegenbewegungen, die finden von selber statt.
Man muss Aufklärung gegen das Dunkel betreiben, und diese Erscheinungsformen bleiben über die Jahrhunderte merkwürdig gleich. Wir haben sie jetzt wieder, die Gegenbewegung, diese Re-Fatalisierung von Geschichte. Was dann alles an Wörtern aus der Dunkelkammer herangezogen wird – etwa wenn es darum geht, politisch gegen die Flüchtlinge zu mobilisieren – man muss schon sehr aufpassen. Nein, wir vertreten gerne die aufklärerischen Werte.
Nike Wagner, Ur-Urenkelin von Franz Liszt und Urenkelin des Komponisten Richard Wagner, ist seit 2014 Intendantin des Beethovenfests Bonn. Davor leitete sie zehn Jahre Lang das Kunstfest Weimar. Sie ist ferner Autorin mehrerer Bücher und Aufsätze zur Kultur und Musik. Mit ihr sprach Rick Fulker.