Besuch in Bergen
15. Oktober 2019Es regnet in Bergen. Natürlich. Deprimierendes Wetter, aber durchaus fruchtbar. Denn unter Bergens grau verhangenem Himmel gedeiht eine reiche, ganz eigene Literatur. Wenngleich viele Bewohner mit Bergen eine Hassliebe verbindet.
"Viele verlassen die Stadt, ziehen fort", schreibt der norwegische Autor Tomas Espedal, 1961 in Bergen geboren. Sein Buch "Bergeners" ist eine Mischung aus literarischem Porträt und Liebeserklärung an seine Heimatstadt. "Viele schaffen es nicht, längere Zeit in Bergen zu wohnen: Der gefängnisartige Regen, das feuchte eingesperrt sein zwischen den Bergen macht einen krank und lebensmüde. Man ist gezwungen, hinter verschlossenen Türen zu leben, allein oder in kleinen Familien."
Auch Tomas Espedal hat die Stadt mal für ein paar Jahre verlassen. Aber er ist zurückgekommen, wegen der Sehnsucht. Die Musikszene der Stadt sei sehr gut, sagt er, und die Literaturszene erst recht. Eine große Familie, die zusammenhält. "Und ich mag die Menschen und die Mentalität wirklich. Ich mag die Sprache, die Art, wie sie reden: sehr gemein und harsch und sehr verdrießlich, sehr frech, sehr arrogant. Ich liebe das!"
Spöttisch wird er hingegen, wenn es um Bergens bürgerliche Seite geht, die Mentalität der alteingesessenen Familien, die ihren Wohlstand dem Handel verdanken. Über Jahrhunderte war die Hansestadt Bergen der Umschlagplatz für Waren im nördlichen Europa. Davon erzählen noch heute die windschiefen Kontor-Häuser im Stadtteil Bryggen, der UNESCO-Welterbe ist.
Die Nachfahren dieser Kaufleute leben in feinen Villen, die in luftiger Höhe über der Stadt thronen. Eine Welt für sich, in der sich, so Tomas Espedal, alles nur ums Geld drehe."Die Bergener Bürgerschaft ist der langweiligste und uninteressanteste Gegenstand, den es gibt; was sollte man darüber schreiben, über sie, diese Familien, die so gut wie unsichtbar sind?", heißt es in "Bergeners".
Selbstbewusste Kulturstadt
Aber es gibt ja noch das andere Bergen - die Kulturstadt, die der norwegischen Hauptstadt Oslo selbstbewusst Paroli bietet: mit dem Nationaltheater, an dem Henrik Ibsen einige Jahre Hausdichter war; einem Kunstmuseum, das den genialen Edvard Munch gerade in einer großen Schau feiert; mit der Universität und ihren Bibliotheken; einem engagierten Literaturhaus samt bestens sortierter Buchhandlung; mit Restaurants, Kneipen und Bars und natürlich mit der berühmten Schreibakademie, an die es junge Autoren aus dem ganzen Land zieht.
Der heute weltweit bekannte Karl Ove Knausgard war 1988 einer der ersten Schüler und Tomas Espedal offiziell sein Lehrer. Plötzlich, erzählt Espedal, hätten damals lauter sehr gute junge Autoren aus allen Teilen Norwegens in Bergen gelebt. "Also haben wir uns gegenseitig herausgefordert. Was können wir tun? Was können wir radikal machen? Ich wollte etwas Radikales mit der Literatur machen. Und Knausgard sagte: Ich mach das noch radikaler! Das war eine Art Wettbewerb".
So wurde eine Literatur erfunden, die extrem autobiographisch und subjektiv ist - gefühlsgetränkt, voller Zweifel, Ängste, Sehnsüchte. Und ohne jede Rücksicht auf die Privatsphäre anderer - eine Provokation! Norwegen sei das letzte sozialistische Land in Nordeuropa, sagt Espedal. Das habe der schwedische Premierminister mal gesagt.
"Und es stimmt, denn es gibt immer noch eine sozialdemokratische Art zu denken. Man ist verpflichtet, sich um seine Nachbarn zu kümmern und Teil der Gemeinschaft zu sein. Man sollte nicht 'Ich' sagen. Also gab es kein 'Ich' in der Literatur außer bei Hamsun (Knut Hamsun, einer der bedeutendsten Schriftsteller Norwegens des frühen 20. Jahrhunderts, Anm. d. Redaktion). Und der ist in jeder Hinsicht die große Ausnahme. Wenn man 'Ich' sagt, dann heißt es: Was meinst du denn, wer du bist?"
Hinter dem Regen
Ein freier Mensch, der sagt, was er denkt, würde Tomas Espedal wohl antworten. Knausgard lebt mittlerweile in Schweden. Aber das Café Opera, in dem er mit anderen Autoren die Nächte durchgemacht hat, ist immer noch ein Szenetreff.
Heute organisiert der Dichter Henning Bergsvag hier regelmäßig Lesungen. An einem Abend im September stellt er die Anthologie "Hinter dem Regen" vor, mit Texten und Gedichten von zwölf in Bergen lebenden Autoren und Autorinnen, darunter die Grande Dame der norwegischen Dramatik und Lyrik, Cecilie Løveid, der feinsinnige Allrounder Frode Grytten und die junge Lyrikerin Katrine Heiberg.
"Es regnet hier immer, 300 Tage im Jahr"; sagt Henning Bergsvag. "Also muss man etwas tun. Ich denke, das ist unser Mittel, um nicht depressiv und verrückt zu werden. Wir müssen kreativ sein, um zu überleben."
Überleben in einem Land, dessen Bevölkerung es materiell ausgesprochen gut geht. Wegen des Erdöls, das seit fast 50 Jahren vor Norwegens Küste gefördert wird und das arme Fischer- und Bauernland zu einem der reichsten der Welt gemacht hat. Selbst spätere Generationen sollen dank klug angelegter staatlicher Fonds noch von den Gewinnen profitieren. Nur: Viele Norweger haben zur Ölförderung längst ein zwiespältiges Verhältnis.
Sie wüssten doch, sagt Henning Bergsvag, dass sie von fossilen Brennstoffen leben, was der ganzen Welt schadet. "Mein Kind lebt davon, überlebt dank dieses Geldes. Ich glaube, viele Autoren und Künstler beschäftigen sich mit dem Problem. Wenn sie gefördert werden, wissen sie, dass die staatliche Unterstützung Öl-Geld ist. Also, wie damit umgehen?"
"Wir wissen doch alle, dass die guten Zeiten zu Ende gehen", sagt Tomas Espedal. Deshalb solle man jetzt gut leben - feiern, trinken, rauchen, Musik hören. Sonst wäre man dumm. Aber es sei nicht der Job von Autoren, an dieser Feier teilzunehmen. Und dann setzt er sich seine Mütze auf und stapft davon, in Regenmantel und hohen Gummistiefeln.